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Coast Starlight: 38 Stunden im Zug



Schon mal was von "Slow Food" gehört? Oder von all den anderen "Slow" Bewegungen wie "Slow Art, Slow Church, Slow Education, Slow Fashion, Slow Gardening, Slow Money, Slow Parenting, Slow Photography, Slow Science, Slow Technology"? Oder "Slow Travel"? Anscheinend haben das langsame Reisen nicht wir auf unserer letzten Unimog-Reise mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 80 km/h von Guadalajara, Mexico, nach Vancouver, British Columbia, erfunden, sondern es gibt darüber schon Bücher, Webseiten und sogar Reisebüros bieten schon "Slow Travel" an. Und wenn wir schon dabei sind wäre da noch "Slow TV", eine Erfindung der Norweger, die 2009 die 7 Stunden und 16 Minuten lange Zugfahrt von Bergen nach Oslo live von am Zug montierten Kameras am Fernsehen ausstrahlten. Wir haben hier also nichts Neues erfunden, doch die Norweger schlagen wir mit unseren 38 Stunden von Vancouver, B.C., nach San Luis Obispo, California, noch lange! Allerdings müssen wir gestehen, dass wir nach ungefähr 10 Stunden vom langsamen Reisen und insbesondere vom Zugfahren etwas die Nase voll hatten... Uebrigens war "Bergensbanen: Minutt for minutt" ein Riesenhit mit über 1.2 Millionen Zuschauern in einem Land mit 5 Millionen Einwohnern, wovon sich 172'000 die ganze siebenstündige Reise vom Start bis zum Schluss genüsslich reinzogen.



Unsere Reise begann am Telefon. Die nette Dame von Amtrak musste unsere persönlichen Daten erfassen, denn wir überquerten ja die amerikanische Grenze. Nach einer Ewigkeit am Telefon und einigen Lachern auf beiden Seiten (z.B. das Ticket für einen Senior) gelang es dann doch. Für die 2094 Kilometer bezahlten wir ganze $209 US Dollar, $96 für den Senior Martin (ab 62 kriegt man Rabatt) und $113 für eine erwachsene Person. Für den "Superliner Bedroom" hätten wir schlappe $693 hinblättern müssen, da bevorzugten wir den billigen Preis und die bequemen Sitze. Da wir so spät buchten, mussten wir die Fahrkarten persönlich an der Station abholen gehen, E-Tickets gab es hier keine. Karen und Leigh, unsere Gastgeber in Vancouver, bestanden darauf, uns zum Bahnhof zu fahren. Dafür mussten wir um 4 Uhr in der Früh aufstehen, tranken im Stehen einen Kaffee, füllten die kleinen Thermosflaschen mit mehr Kaffee, und fuhren zur Pacific Central Station im Herzen von Vancouver. Von Vancouver ging es per Autobus bis nach Seattle. Ganze 10 weitere Reisende bestiegen den Bus, der 50 Passagiere hätte befördern können. An der amerikanischen Grenze mussten wir unser Gepäck aus dem Bus holen, in ein Gebäude hineinschleppen, an den Zollbeamten vorbei, die zu dieser Tageszeit noch etwas träge waren, und auf der anderen Seite wieder raus und das Gepäck wieder im Bauch des Busses verstauen. Im Grossraum Seattle stiessen wir natürlich auf den morgendlichen Berufsverkehr, doch unser Bus durfte die Spezialfahrspur für Fahrzeuge mit zwei oder mehr Personen benutzen. Die King Street Station in Seattle befand sich auch mitten im Stadtzentrum. Hier mussten wir uns in eine lange Schlange stellen und darauf warten, dass uns Sitzplätze zugeteilt wurden. Die Sitze waren extrem bequem, breit und verstellbar, und sogar mit Fussstützen ausgestattet. Dazu kamen schön grosse Panoramascheiben. Selbstverständlich gab es ein Klapptischchen wie im Flugzeug und sogar einen Stromanschluss. Nur WiFi Internet stand nur den Passagieren zu, die viel Geld für ein richtiges Bett gezahlt hatten.



Pünktlich um 9:35 morgens setzte sich der Zug in Bewegung. Im "Sightseer Lounge" Wagen, der mit riesigen Panoramafenstern, drehbaren Sesseln und Tischen ausgestattet war, begleiteten zwei Nationalpark Rangers die Fahrt und erläuterten den Passagieren die Sehenswürdigkeiten, die der Zug auf dem Weg südwärts passierte. Zuerst war dies der schneebedeckte Mt. Rainier und danach die Fahrt entlang des Puget Sound mit den ebenfalls noch schneebedeckten Olympic Mountains am Horizont. Dann folgte der Zug dem Columbia River und später dem Williamette River bis nach Portland, Oregon, und wir erhaschten einen kurzen Blick auf Mount Hood und die Cascade Mountains. Doch schon zwischen Seattle und Portland stand unser Zug verschiedene Male für längere Zeit. Entweder waren das Problem Arbeiten an den Gleisen oder ein entgegenkommender Zug, auf den gewartet werden musste, jedenfalls fuhren wir uns so ungefähr zwei Stunden Verspätung ein, und das schon in den ersten paar Hundert Kilometern der Reise. Aber immer wieder versicherte uns eine Stimme über den Lautsprecher, dass das alles ganz normal sei und dass der Zug diese Zeit später wieder aufholen werde. Portland war ein längerer Stop. Da wurde man ebenfalls über Lautsprecher darüber informiert, dass dies eine gute Gelegenheit für die Raucher im Zug sei, sich eine Zigarette anzünden zu gehen. Dafür mussten sie sich allerdings mindestens sechs Meter vom Zug entfernen. Unser Mittag- und Nachtessen hatten wir dabei, so holten wir im Cafe Wagen nur zwei überteuerte Bier.



Aus dem Rucksack kam frisches Brot, kanadischer Käse, knackige Zuckererbsen, Trauben und Erdbeeren. Wir taten gut daran, keine Flasche Wein mitgebracht zu haben, denn dieser war strengstens verboten und man konnte bei einem Verstoss aus dem Zug geschmissen werden. Die Strecke verlief südwärts durch Oregon bis nach Eugene. Danach ging es südöstlich in die Cascade Mountains hinein, über den Willamette Pass und nach Chemult (300 Einwohner) und weiter nach Klamath Falls, das auf der Hälfte unserer Strecke lag. Die Strecke durch die Cascade Mountains wurde im Amtrak Prospekt mit spektakulärer Berglandschaft angepriesen, ausserdem passierte der Zug hier 22 Tunnels. Da wir in Eugene mit ungefähr zwei Stunden Verspätung ankamen war es schon am Eindunkeln, als wir in die Cascade Berge hinauffuhren und bald war auch nicht mehr auszumachen, ob der Zug nun durch einen der 22 Tunnels fuhr oder durch den dunklen Wald in die Nacht hinein.



Die Stationen, an denen der Zug etwas länger hielt, waren nicht nur für Raucher eine langersehnte Pause. Auch wir vertraten uns gerne etwas die Beine und schnappten frische Luft. Ausserdem konnten wir auch einem unserer Hobbies nachgehen, nämlich Leute beobachten. Die skurrilsten Menschen fuhren mit diesem Zug. Da gab es den übergewichtigen Computer Freak, der mit lauter Stimme seine neuesten Erkenntnisse bekanntmachte und seine spontanen Zugbekanntschaften über technische Neuerungen in der Welt der Computerspiele informierte, wobei er seinem Gegenüber kaum die Chance liess, auch etwas zur Diskussion beizusteuern. Dann gab es einen drahtigen Raucher, der alle, die ihm zuhören wollten, darüber informierte, dass er abgesehen von den zwei Bieren, die er im Cafe Wagen zur Beruhigung geholt hatte, nicht trinke - und der dann später alle 15 Minuten eine kleine Flasche mit klarer Flüssigkeit aus seinem Rucksack holte und seinem Sitznachbarn als Bestechung auch einen Schluck anbot. Ausserdem hatte er dauernd eine unangezündete Zigarette in der Hand, an der er sehnsüchtig regelmässig sog. Oder einen, den wir "den Hobbit" tauften, weil er ein wenig wie Bilbo Baggins aussah, klein und rundlich war und mit seinem richtigen Vollbart gut in den Film 'Der Herr der Ringe' gepasst hätte. Und die Grossfamilie von Mennoniten, die mit ihren Haarschnitten und Kleidung so absolut nicht in den Zug passten. Oder 16-jährige Mädels mit hautengen Jeans, die andauerend mit ihren Telefonen am spielen waren. Nicht zu vergessen der in zigfacher Potenz übergewichtige Schwarze, der völlig ausser Atem kam wenn er die paar Stufen in das Obergeschoss des Zuges hinaufsteigen musste und bei dem es ein Wunder war, dass er überhaupt durch diesen engen Aufstieg passte und er sich in seinen Sitz quetschen konnte. Natürlich gab es noch viel mehr sehenswerte Gestalten, was die lange Reise wenigstens etwas abwechslungsreich gestaltete.



Um 10 Uhr nachts wurden die Lichter gelöscht. Man versuchte es sich so gemütlich wie möglich in den Sitzen zu machen, was für eine Weile gut funktionierte, doch so breit und verstellbar die Stühle auch waren, sie waren nicht dafür gedacht, in ihnen bequem mehrere Stunden am Stück zu schlafen. Zum Glück konnte man aber seinen Laptop in den Cafe Wagen nehmen und dort ungestört lesen. Oder ganz altmodisch mit dem Licht über dem Sitz ein Buch lesen. Als es endlich wieder hell wurde waren wir schon lange in Kalifornien und der Zug fuhr durch gelbes Hügelland und vorbei an grünen Reisfeldern. Bei Stadt Ein- und Ausfahrten fielen uns nun die vielen Obdachlosen auf, die entlang der Eisenbahnschienen ihre temporären Schlafstätten aufgeschlagen hatten und aus Schachteln und Einkaufswagen lebten. Bald kamen wir der Bucht von San Francisco näher. Der Stop in Oakland war wieder einer für die Raucher. Als wir uns bei der Zugbegleiterin erkundigten, ob wir es wagen könnten, in der Station nach einem guten Kaffee und einem Brötchen zu suchen, meinte sie nur, dass wir hier nur ganz kurz halten würden, um möglichst die Verspätung wieder aufzuholen. Diesen Satz bekamen wir so ungefähr an jeder Station zu hören, an der die Raucher ausstiegen, und jedes Mal dauerte der Stopp mindestens 30 Minuten und man hätte genügend Zeit gehabt. Doch wir wollten ja nicht riskieren, an irgendeinem kalifornischen Bahnhof zu stranden, ausserdem gab es an den Stationen oft nur einen Billetschalter und sonst nichts, nicht einmal einen Getränkeautomaten. Nun ging es über San Jose nach Gilroy, der Knoblauch Hauptstadt der Welt. Danach kamen wir durch die Santa Cruz Mountains und nach Castroville, die Artischocken Hauptstadt der Welt. Neben Knoblauch und Artischocken wird in der Gegend aber auch noch anderes gezüchtet, so z.B. Pilze, Erdbeeren, Salat und vieles mehr.



Endlich näherten wir uns Paso Robles, wo wir aus dem Zug heraus die ehemalige "Bruchbude" unserer Freunde Kristin & Blair begrüssten, wo wir im Sommer 2002 viele Stunden mit Pinseln und weiteren Renovationsarbeiten verbrachten (siehe Reisebericht 51). Zwischen Paso Robles und San Luis Obispo überquerten wir die Cuesta Grade. Danach fuhr der Zug in 18 Kilometern in langen Kurven und durch wenige Tunnels 300 Höhenmeter hinab, eine Tatsache, die im Amtrak-Prospekt grossartig angekündigt wurde. Wir waren unglaublich langsam unterwegs und irgendwie konnten wir den Stolz auf diese Cuesta Grade Strecke nicht ganz verstehen, v.a. nicht wenn man schon mal mit der Eisenbahn die Gotthard-Strecke in der Schweiz gefahren ist, die wesentlich mehr Höhenmeter überwindet und eine Vielzahl von Tunnels und Brücken beinhaltet. In Sachen Eisenbahn leben die USA wirklich noch fast in der Steinzeit.



Eigentlich hatten wir unsere Fahrkarten nur bis Paso Robles gekauft, doch da unser Feuerwehr-Freund Blair bei Waldbränden in San Diego stationiert war, kamen wir bei seinen Eltern Sandy und Val in San Luis Obispo unter. Der Kondukteur war erstaunlich nett und meinte, wir sollten uns wegen der zusätzlichen Kosten keine Sorgen machen und einfach bis San Luis Obispo sitzenbleiben, schliesslich hätte der Zug genügend Verspätung und so würden wir wenigstens etwas entschädigt. Sandy und Val holten uns netterweise am Bahnhof ab und wir kamen für die nächsten Tage in ihrem Strandhaus in Avila Beach unter. Mit Blick auf den Pazifik und dem Rauschen der Wellen zum einschlafen und aufwachen. Doch von unseren San Luis Obispo Unternehmungen wollen wir Euch in einem nächsten Reisebericht erzählen.



Mai 2014



Julia Etter & Martin Kristen