travelog 101






Rancho El Puerto, zum zweiten



Langsam bekommen wir das Gefühl, uns auf einer nostalgischen Reise durch den Norden Mexikos zu befinden. In unseren letzten Reiseberichten haben wir (fast) durchwegs von Pflanzen, Ort- und Landschaften berichtet, die wir vor 10 Jahren schon einmal besucht hatten. Mit diesem Reisebericht bleiben wir der Nostalgie treu und fahren zurück zum Rancho El Puerto, von dem wir im April 2001 zum ersten Mal berichtet hatten.



Von Creel aus fahren wir zuerst nordwärts, vorbei am Basaseachi Wasserfall. Die Strasse ist neu asphaltiert und es fehlen nur noch einige Kilometer zur Vollendung. Ab der Verzweigung in San Juanito beginnen die blauen Schilder, die auf den Basaseachi Wasserfall und das gleichnamige Dorf hinweisen, einfach mit einem Geradeaus-Pfeil geschmückt. Anfangs fallen sie uns kaum auf und natürlich zählen wir sie auch nicht. Nach einer Weile jedoch wird einem klar, dass da wohl ein übereifriger Beamter des Tourismusbüros am Werk war, da es unglaublich viele Hinweisschilder sind. Dann fängt man an zu witzeln, ob hinter der nächsten Kurve wohl wieder ein Schild stehen wird. Und schliesslich fängt man an zu rechnen und kommt zu dem Ergebnis, dass alle 2 Kilometer ein Hinweisschild mit der Aufschrift "Cascada Basaseachi / Poblado Basaseachi" am Strassenrand steht. Das ergibt die stattliche Anzahl von ungefähr 40 Schildern verteilt auf 80 Kilometer Distanz. Den Wasserfall besuchen wir diesmal nicht, dafür wollen wir im Dorf einen Kaffee trinken. Es gibt zwar viele Restaurants, doch erst etwas ausserhalb entlang der Hauptstrasse werden wir fündig. Viel scheint dieses Dorf nicht zu bieten zu haben.



Von 2500 m in den Nadelwäldern bei Basaseachi führt die Strasse über Yecora auf ca. 1500 m und Maycoba, beides schon in Sonora gelegen, nach Westen Richtung Hermosillo. Es gibt einige interessante Pflanzen zu sehen, doch wir wollen ja eigentlich in die Sierra Matape. Bei Tepaco, das nur noch auf 650 m Hoehe liegt, stoppen wir, um nach Sedum lumholtzii zu suchen. Der norwegische Forscher und Ethnograph Carl Sofus Lumholtz (1851–1922) verbrachte viele Jahre in Mexiko. In seinem berühmten Buch "Unknown Mexico" beschrieb er die im Norden Mexikos lebenden Cora, Tepehuan, Pima und Tarahumara Indianer. Er beschrieb aber nicht die Einheimischen der Sierra Madre, sondern auch archäologische Stätten und Flora und Fauna dieser Gegend. Nach Lumholtz sind verschiedene Pflanzen benannt, u.a. obenerwähntes Sedum, aber auch die in Mexiko heimische Pinus lumholtzii. Im Volksmund "Pino triste", traurige Pinie, genannt, ist dieser Baum dank seiner extrem langen und nach unten hängenden Nadeln einfach von allen anderen Pinien zu unterscheiden. Ausserdem besitzt Pinus lumholtzii einen der kleinsten Zapfen unter den mexikanischen Pinien. Aber zurück zu den Sukkulenten. Die winzigen Rosetten von Sedum lumholtzii sind fast ganz zurückgeschrumpft und warten auf bessere Zeiten. Nur der unterirdische Kormus, eine Art Rübenwurzel, ist dick und fett und wohlgenährt für die lange Trockenzeit. Bei Tonichi überqueren wir den Rio Yaqui und fahren dann nordwärts auf einer sehr guten Piste. Bald erreichen wir Soyopa, von wo aus die Strasse ganz neu asphaltiert ist. Bei einer kleinen Siedlung wird gerade "Bacanora", eine Art Mezcal, typisch für die Gegend um die Ortschaft Bacanora, für die Weihnachtsfeiertage zubereitet. Agavenherzen liegen auf einem Haufen, der Esel steht angebunden daneben, in einem Erdloch werden Vulkansteine aufgeheizt und ein paar Männer trinken ein Bier im letzten Licht des Tages. Die Agavenherzen werden im mit den glühend heissen Steinen geheizten Loch mit Erde zugedeckt. Nachdem sie gekocht sind, werden sie herausgenommen und zerstampft, wobei der Saft zur Fermentierung aufgefangen wird. Es ist der 22. Dezember und bis zum 24. werden sie ihren "Bacanora" gebrannt haben, um auch kräftig feiern zu koennen.



In Mazatan biegen wir Richtung Villa Pesqueira, besser bekannt unter dem Namen Matape, ab. 2001 verfuhren wir uns, weil wir auf der alten Piste in Richtung des Stausees San Jose de Batuc fahren wollten. So standen wir damals ploetzlich auf dem Rancho El Puerto, wo die relativ gut befahrene Piste aufhoerte. Martin erinnert sich gut an die Einfahrt, weil dort ein oranges Schild stand mit der Aufschrift, dass es für Fremde verboten sei in der Gegend "Chiltepin", den wilden Chili, zu sammeln. Ich habe da so meine Zweifel, ob dieses Schild 10 Jahre später immer noch am gleichen Ort steht, doch siehe da, wir fahren direkt auf besagtes Schild zu, das in den letzten Jahren einfach etwas blasser geworden ist. Wir folgen der Piste und unserer Nase, vorbei an einigen Verzweigungen, bis wir an ein verschlossenes Eisentor gelangen. Laut GPS befinden wir uns nur noch ca. 1 Kilometer vom kleinen Bauernhof entfernt. Wir parken, schultern die Rucksäcke und marschieren los. Bald erreichen wir ein weiteres Tor und dann den Eingang zum Hof. Kaputte Autos sind links und rechts geparkt. Ein kleiner Pickup sieht fahrtüchtig aus. 3 Hunde begrüssen uns sichtlich hungrig mit wedelnden Schwänzen. Eine hübsche Siamesenkatze gesellt sich zu ihnen. Kühe muhen in einem abgesperrten Gehege. Die Tür zum Haus scheint geschlossen zu sein. Alles Rufen nach Don Roberto nützt nichts. Es ist der 23. Dezember und gut moeglich, dass die Familie sich für die Feiertage in Hermosillo befindet und nur kurz hierherkommt, um nach den Tieren zu schauen.



Auf einem kleinen Pfad steigen wir den Berg hinauf, treu gefolgt von einem der Hunde. Bald schon sehen wir die ersten Agave shrevei ssp. matapensis im Unterholz. Etwas weiter oben dann die baumartige Nolina matapensis, Yucca grandiflora, von der wir eine 15 cm lange vertrocknete Frucht finden, und Agave ocahui var. longifolia. Es gibt aber auch Hechtien, Mammillarien und einen Echinocereus. Der Himmel ist leicht bewoelkt, die Sicht auf den Stausee grandios. Ploetzlich hoeren wir unten vom Rancho her laute Stimmen. Wahrscheinlich ist jemand gekommen, um nach den Tieren zu schauen. Je weiter wir den Berg hinaufklettern, desto besser wird die Sicht auf den Stausee und desto schoener werden die Pflanzen. Da wir aber unbedingt Don Roberto und seine Familie antreffen wollen, steigen wir am Nachmittag wieder den Berg hinunter. Und finden auf dem Rückweg prompt "Chiltepin". Die kleinen, roten, runden Chiles sind im laublosen Unterholz gut zu sehen. Ein Busch ist noch ganz voll mit Chiles und die Ernte fällt reichlich aus.



Beim Bauernhof unten begrüssen uns wieder die Hunde. Die Siamesenkatze streicht auch sofort um unsere Beine herum. Es sieht aus wie am Morgen. Der Pickup wurde nicht verschoben, es gibt keine neuen Reifenspuren im Sand, keine Menschenseele ist zu sehen. Wieder rufen wir nach Don Roberto, wieder bekommen wir keine Antwort. Schliesslich geben wir auf, schreiben eine Karte und klemmen sie in den Türrahmen. Nachdem wir das erste Tor passiert haben, ruft uns ploetzlich jemand von hinten nach. Ein kleiner Mann kommt in den Socken hinter uns hergerannt. Es muss Don Roberto sein ! Aufgeregt fragt er, wer wir sind und entschuldigt sich gleich, dass er ein bisschen betrunken sei. Das passiert uns allen ab und zu, versichern wir ihm, und stellen uns als die Schweizer mit dem grossen Mobil vor, die vor 10 Jahren mal zu Besuch gewesen sind. Sofort erinnert er sich an Julia und ist ganz gerührt, uns lebend vor sich stehen zu sehen. Unsere Postkarte hatten sie damals bekommen, doch danach hätten sie von einem schrecklichen Ereignis "dort drüben" gehoert und angenommen, dass wir dabei umgekommen seien. Immer wieder wiederholt er das Unglück und es klingt fast so, als ob Europa seiner Meinung nach von einer Atombombe getroffen worden wäre. Vielleicht meinte er 9/11 in den USA, doch er erwähnte nie genauere Details. Jedenfalls kann er es fast nicht fassen, dass wir beide ganz putzmunter auf seinem kleinen Bauernhof stehen. Sofort lädt er uns ein, zurück zum Haus zu kommen und bei ihm zu übernachten.



Martin macht es sich mit Don Roberto in der Küche so bequem wie es eben nur geht. Ich marschiere währenddessen zurück zum Auto und gehe in Matape etwas zum Nachtessen einkaufen. Als ich wieder zurückkomme, schläft Don Roberto schon wieder wie ein Stein in seinem Bett und Martin sitzt in der dunklen Küche und versucht, ein Feuer im Herd zu entfachen, um die Hütte wenigstens etwas aufzuwärmen an diesem kalten Winterabend. Die Katze hat er unterdessen mit Suppe vom Herd gefüttert. Die Küche sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Auf dem Tisch schieben wir alles etwas zur Seite. Draussen vor der Türe finden wir mehr Holz für das Feuer. Ein Comal, eine Art Bratpfanne um Tortillas und Quesadillas zu erhitzen, hängt an der Wand. Ich bereite uns ein paar Quesadillas zu, dazu essen wir Zwiebel- und Tomatenscheiben und natürlich scharfen Chile. Don Roberto schläft selig und so wird das Fleisch, das ich gekauft habe, nie gebraten. Wahrscheinlich endete es als Hundefutter. In einem Hinterzimmer macht ein Generator einen fürchterlichen Lärm, doch nur so wird die einzige Glühbirne in der Küche betrieben. Bald ist es auch draussen stockfinster und im Schein der Taschenlampe suchen wir unsere Siebensachen zusammen. Don Roberto hat Martin in einem Zimmer zwei Betten zugewiesen, die wir benützen koennen. Mit unseren Schlafsäcken und den vielen Wolldecken wird es schnell angenehm warm. Mitten in der Nacht erschreckt uns Don Roberto, der ploetzlich hellwach im Türrahmen steht und fragt, ob alles in Ordnung sei. Einige Stunden später wacht er anscheinend wieder auf und stellt den lärmigen Generator ab. Und dann ist es auch schon bald wieder Morgen, gottseidank. Im voellig abgedunkelten Zimmer verliert man allen Sinn für die Zeit. Don Roberto, der in einem Bett gleich neben der Eingangstüre schläft, ist auch durch den groessten Lärm nicht wachzukriegen.



Wir entzünden wieder ein kleines Feuer, um wenigstens die Küche ein wenig zu wärmen. Ploetzlich kommentiert Don Roberto aus dem Bett heraus, wie der Gasofen anzukriegen sei, um Wasser für Kaffee zu kochen. Die Katze füttern wir wieder aus dem Suppentopf. Dann gibt es heissen Kaffee und bald ist es uns schon wärmer. Die kleinen Fensterscheiben wurden seit Jahren nicht mehr geputzt, es dringt kaum mehr Licht in die Küche. Im Eingangszimmer, wo Don Robertos Bett steht, sind die Fensterläden geschlossen, es herrscht ewiges Dämmerlicht. Auf den wenigen Stühlen liegen Haufen von Kleidern. Im Waschbecken der Küche türmt sich dreckiges Geschirr. Auf dem Küchentisch stehen die Reste der letzten Woche - oder des letzten Monats ? Es ist ein trauriger Anblick und irgendwie haben wir das dumpfe Gefühl, dass Don Roberto nicht nur gestern ein wenig betrunken war, sondern dass der Rausch ein Dauerzustand ist. Graciela, seine Frau, befindet sich anscheinend bei der Tochter in Hermosillo und ist krank. Die Tochter kommt ab und zu und bringt Suppe. Hier oben gibt es keinen Strom und kein heisses Wasser. Das Leben ist hart und wahrscheinlich wurde es der Frau einfach zuviel. Unsere Fotos von 2001 zeigen eine aufgeräumte Küche mit gelben Vorhängen an den Fenstern. Nun vegetiert Don Roberto hier oben alleine vor sich hin, steht einmal pro Tag auf um nach seinen Tieren zu sehen und befindet sich ansonsten in einem Dauerrausch. Der kleine Bauernhof ist idyllisch gelegen, doch wahrscheinlich fällt einem alleine bald einmal die Decke auf den Kopf. Vielleicht irren wir uns auch und Don Roberto ist einfach etwas melancholisch während der Weihnachtszeit, so alleine auf seinem Hof, und hat deshalb etwas über den Durst getrunken.



Da unser Gastgeber kaum in der Lage scheint, aus dem Bett zu steigen oder geschweige denn, sein Auto zu bewegen und uns zum Abschied aus der dunklen Ecke in seinem Bett die Adresse seiner Frau in Hermosillo diktiert, nehmen wir den Schlüssel zum Tor mit und hinterlegen ihn unter einem vereinbarten Stein, immer hoffend, dass er sich am nächsten Tag noch daran erinnern kann. Etwas traurig verlassen wir diesen wunderschoenen Ort und fahren weiter nach Hermosillo, von wo wir unsere Nostalgiereise weiterführen werden.



Unser nächstes Ziel sind Agave pelona und Agave zebra in der Sierra del Viejo. Doch davon wollen wir Euch in unserem nächsten Reisebericht erzählen.



März 2011



Julia Etter & Martin Kristen