travelog 112






Quebradas de Durango



Zerbrochene Landschaften mit hohen Bergen, senkrechten Klippen und tiefen Schluchten, wo pro Tag Höhenunterschiede von mehr als 2000 m überwunden werden müssen; Pisten, die aussehen als ob sie zum letzten Mal vor Jahren befahren worden wären; Begegnungen mit genau einem Auto und fröhlichen, Bier aus Dosen trinkenden Insassen oder mit einem mit Sturmgewehr bewaffneten Reiter; geschäftige Ortschaften mit Gold- und Silberminen; altbekannte und neue Pflanzenarten. Das alles - und viel mehr - gibt es in den "Quebradas" von Durango zu sehen, und davon wollen wir in diesem Reisebericht schreiben. Wer nun aber aufgrund unseres Reiseberichtes einen Besuch dieses phantastischen Gebietes plant, der sollte sich gut vorbereiten. Spanischkenntnisse sind von Vorteil, Vierradantrieb und hohe Bodenfreiheit absolut notwendig, und natürlich gehören genügend Zeit und eine gehörige Portion Abenteuerlust dazu.



Die Quebradas heissen so, weil es eine spektakulär zerklüftete Landschaft ist, oder eben "zerbrochen", wenn man es wortwörtlich übersetzen will. Die bekanntesten sind die Quebrada del Piaxtla, eine der tiefsten und schroffsten, die von den Spaniern vor vier Jahrhunderten auch die Quebrada del Diablo genannt wurde; die Quebrada de Ventanas, die fast am nächsten an einer grossen Hauptstrasse liegt, aber wegen ihrer Unzugänglichkeit eine der am wenigsten bereisten ist; und die Quebrada de Basís, die einfachst zugängliche der drei Quebradas, bei der allerdings eine spektakuläre senkrechte Felswand durchfahren werden muss. Der niedrigste Punkt der Quebradas liegt bei ~500 m über Meer, der höchste Gipfel erhebt sich über 3000 Meter über Meer. Es gibt ein paar wenige geschäftige Ortschaften wie Tayoltita oder Cardos, die von den nahegelegenen Minen profitieren, oder San Miguel de Cruces und La Ciudad, beides Holzfällerstädtchen. Ansonsten passiert man einsame und oft verlassene Gehöfte oder kleine Siedlungen, wo noch ein paar Familien hausen. Oft wird man gefragt, was man denn verkaufen wolle, denn wer nimmt schon zum Spass die schlechten Pisten unter die Räder, die es zu bewältigen gibt, wenn man tiefer in diese gottverlassene Gegend eindringen will. Entlang der grossen Hauptstrasse kann man in einigen der obengenannten kleinen Holzfällerstädtchen wie El Salto, La Ciudad und San Miguel de Cruces seine Vorräte aufstocken, den Tank auffüllen und in einem schäbigen Hotel unterkommen.



Unser Abenteuer starteten wir zusammen mit Jean-Marc in La Ciudad. Die Regenwolken des vorherigen Abends hatten sich verzogen und wir fuhren unter einem strahlend blauen Himmel los. Etwas westlich von La Ciudad war die Abzweigung nach Borbollones ausgeschildert. Das war das letzte Strassenschild für die nächsten paar Tage. In Borbollones fuhren wir auf der einzigen befahren aussehenden Piste durchs Dorf und erkundigten uns am anderen Ende, ob wir hier richtig seien nach Palmarito. Die Leute erklärten uns, dass sie die Strecke nicht kennen würden, aber dass sie anscheinend bis auf die andere Seite befahrbar sei. Die alte Frau segnete uns und unseren Weg und so fuhren wir gut beschützt weiter. Hinter dem Dorf führte die Piste in einen dunklen Tannenwald und war kaum noch als befahrene Strecke erkennbar. Glücklicherweise kam uns ein Pickup entgegen, der mit Kisten von Pfirsichen beladen war. Natürlich befragten wir den Fahrer nach dem Weg nach Palmarito und dieser stellte sich als Kenner der Gegend heraus. Wir waren tatsächlich richtig und konnten uns nicht verfahren, meinte der Pfirsichzüchter. Weiter unten würden wir die Pfirsichplantagen sehen, doch die Hauptpiste wäre klar erkennbar. Der Mann war mit seinem Sohn unterwegs und die beiden lieferten ihre Pfirsiche nach El Salto zum Weiterverkauf. Er war ganz begeistert, dass wir diese einsame und wunderschöne Gegend kennenlernen wollten. Offensichtlicherweise kamen hier nicht arg viele Touristen vorbei. Nachdem er uns noch eine ganze Menge seiner wunderschönen und fantastisch duftenden Pfirsiche als Proviant mitgegeben hatte, zogen wir unseres Weges. Bald schon erreichten wir das Ende des dichten Tannenwaldes und die ersten Blicke in den Abgrund der Quebrada de Ventanas eröffneten sich. Von einem Felsplateau aus hatten wir eine sagenhafte 180° Sicht und sahen unter uns tatsächlich die Pfirsichplantagen und ein paar Häuser. Natürlich fuhren wir prompt falsch, denn die Piste zu den Pfirsichen war natürlich besser befahren. Immerhin waren es nur ein paar Hundert Meter, doch beim extrem schlechten Zustand der Piste war einem eigentlich jeder Meter zuviel zum Zurückfahren. Zuerst kamen wir an Agave inaequidens ssp. barrancensis vorbei, später dann folgten Echeveria affinis und E. dactylifera.



Sofern man die Augen nicht auf die Piste gehaftet haben musste, ergötzten wir uns an den spektakulären Blicken ins Tal des Rio Presidio und konnten so auch den Verlauf der Piste verfolgen. Natürlich fuhren wir nochmals falsch, da die Piste, die nur zu einem kleinen Ranchito führte, wesentlich besser befahren aussah als der andere Zweig. In diesen steilen Abhängen mit den vielen Haarnadelkurven war das Umdrehen jedes Mal ein grösseres Unterfangen. Ein riesiges Exemplar von Echeveria dactylifera, das fast schon wie eine hellgrüne Agave aussah, war einen Fotostop wert. Vier Kinder ratterten auf einem ATV vorbei. Der grösste Junge sass am Steuer und passierte unsere auf der Piste geparkten Autos elegant am Berghang. In einer der nächsten Haarnadelkurven stand am Pistenrand ein komplett ausgeschlachteter Pickup, der sichtlich hier unten zusammengebrochen war. Die Temperaturen stiegen je tiefer wir in die Schlucht hinunterkamen und die Vegetation wurde trockener. Ab und zu erspähten wir die knallroten Blüten eines Echinocereus koehresianus. Auf den Felsen gediehen Hylocereen und in den Bäumen Orchideen. An einem trockenen Bachbett passierten wir ein kleines Ranchito mit Blumen im Vorgarten und Hühnern auf der Piste. Nach ca. 35 km von der Hauptstrasse erreichten wir Palmarito, wo es nicht nach einer Uebernachtungsmöglichkeit aussah. Aus einem der wenigen Häuschen kam eine junge Frau, die wissen wollte, was wir denn hier unten verloren hätten. Sie verlor jegliches Interesse an uns, als sie herausfand, dass wir für die UNAM auf Pflanzensuche waren und nicht die neueste Mode aus der Grossstadt Durango im Angebot hatten. Kurz hinter Palmarito mussten wir den Rio Presidio furten, der allerdings am Ende der Trockenzeit einen sehr niedrigen Wasserstand hatte. Wir beschlossen einstimmig, möglichst viel an Höhe zu gewinnen, um einen guten Platz zum campieren zu finden. Mittlerweile war es später Nachmittag und dicke Regenwolken zogen sich an den Bergen zusammen. In der Ferne donnerte es schon lautstark. Auf 1350 m fanden wir eine kleine Ausfahrstelle, die Platz für zwei Autos und unsere Stühle und den Tisch bot. Schnell stapelten wir die Kisten im hinteren Teil des Autos, bliesen die Luftmatratze auf, machten die Schlafsäcke parat, und hofften darauf, dass das Gewitter sich nicht über uns entladen würde. Das Bier aus der Kühltruhe war noch herrlich kalt, dazu gab es Jean-Marc's süchtigmachende Pommes Chips mit Meersalz. Wir hatten Glück und es fielen nur ein paar kleine Regentropfen, dafür waren die kleinen beissenden Insekten eine richtige Plage. Trotz der kleinen Ortschaft Mala Noche, Schlechte Nacht, an deren Abzweigung wir weiter unten vorbeigekommen waren, verbrachten wir im Gegensatz zu Jean-Marc eine ausgezeichnete Nacht. Der Upgrade zur Luftmatratze machte einen riesigen Unterschied in Sachen Komfort. Jean-Marc's Auto, ein Toyota FJ Cruiser, war viel kürzer und der Arme hatte sich auf einer dünnen Liegematte irgendwie zwischen den Vordersitz und seine diversen Schachteln gezwängt, was seinem Rücken und dem Knie nicht sonderlich gut bekam.



Am Morgen kam ein junger Mann mit einem Zug von Eseln vorbei, die alle mit grossen Plastikeimern beladen waren, deren Ladung allerdings versteckt war. In dieser Gegend hätte es gut und gerne Marijuana sein können. Zum Frühstück begleitete uns das laute Gekrächze der weit über uns fliegenden Guacamayas, grüner Papageien (Ara militaris). Kaum hatten wir alles zusammengepackt und waren ein paar Kurven in die Höhe gefahren, stoppten wir schon wieder an einer interessant aussehenden Felswand. Plumeria, Mala Mujer, Cnidoscolus sp., und Ipomoea blühten weiss. Agave multifilifera hing in der senkrechten Wand zusammen mit A. bovicornuta und A. vilmoriniana. Es gab auch eine sehr kompakte, grün bis violett und silbern gefärbten Hechtia, Echinocereus koehresianus und eine Mammillaria sp. Natürlich gab es auch Orchideen vom Typ Laelia und im feuchten Humus in Felsspalten entdeckten wir ein Cyrtopodium. Die Lehrerin aus Mala Noche wanderte auf der Piste mit ihrem Sohn bergabwärts. Sie kam von einer Quinceañera, einem Fest, um den 15. Geburtstag eines Mädchens (und seine Frau-Werdung) zu feiern, aus San Francisco. San Francisco liegt 16 Kilometer von Mala Noche entfernt weit oben in den Bergen. Von unserem Punkt her fehlten ihr immer noch 6 Kilometer und sie zuckte nur mit den Schultern, als wir sie fragten, ob sie denn nicht schon viel zu spät für ihre 16 Schüler und den Schulbeginn an diesem Montagmorgen sei. Die Piste führte nun zuerst einer Bergkette entlang und wir hatten einmal mehr sagenhafte Blicke auf den Rio Presidio tief unter uns und die endlose Schluchtenlandschaft fast 360° um uns herum. Bald fuhren wir auf einem Bergkamm entlang, auf der einen Seite ging es senkrecht über eine Klippe nach unten, auf der anderen gab es noch einen runden Felsen, auf dem wir eine einzige Echeveria dactylifera entdeckten, beim späteren Herumlaufen aber auf grössere Gruppen von Echeveria pringlei var. parva stiessen. In einem Eichenbaum hing eine Encyclia citrina, eine Tulpen- oder Narzissenorchidee, und Jean-Marc war einmal mehr fasziniert von einer Mammillaria sp., die einer M. craigii, M. lindsay oder M. grusonii ähnlich sah. Oberhalb eines kleinen Ranchitos war ein Chevrolet Yukon geparkt, offensichtlicherweise für immer. Das Auto hatte keinen Vierradantrieb und es war uns absolut schleierhaft, wie die Leute mit dem Fahrzeug bis hierher gekommen waren. Ein Jeep Cherokee, voll besetzt mit Dosenbier trinkenden jungen Männern, kam uns in einer der nächsten Kurven entgegen. Da musste man ein extremes Gottvertrauen in den Fahrer und dessen Fähigkeiten haben, wenn man sich am Morgen nach einem Fest (die Quinceañera in San Francisco) schon mit dem nächsten Bier in sein Auto setzte, um eine der schlechtesten und abschüssigsten Pisten zu fahren, die wir kannten.



Ungefähr 20 Kilometer nachdem wir den Rio Presidio gefurtet hatten, erreichten wir La Desmontada. Am Ausgang des Dorfes hatte sich eine Unmenge junger Männer versammelt, die alle herumlümmelten und Bier tranken. Auf der einen Seite hingen drei Sturmgewehre an einem Baum, auf der anderen Pistenseite lehnten zwei kleinere automatische Waffen an einem Baumstamm. Martin stoppte nur kurz, als ich die Waffen erwähnte, und da näherte sich auch schon einer der Jünglinge. Wir unterhielten uns eine Weile sehr höflich und der junge Mann war erstaunt über soviel Tourismus in dieser abgelegenen Gegend, denn anscheinend sah man hier selten zwei Autos auf einmal mit hellhäutigen Touristen, deren Fahrzeug über und über mit Klebern der UNAM vollgepickt war, damit einen bloss Männer wie der, der gerade an unserem Auto lehnte, schon von weitem als harmlos identifizieren konnten. Leider wollte er partout nicht, dass wir ein Foto von der beeindruckenden Waffensammlung machten, das sei verboten. Und überhaupt seien diese Waffen nur hier, um das Dorf zu beschützen. Für einen Montagnachmittag und eine so kleine Ortschaft so abgelegen wie diese war es offensichtlich, dass die ganze Jungmannschaft keiner "normalen" Tätigkeit nachgehen konnte, allerdings bezweifelten wir sehr, dass hier oft Militär oder Staatspolizei vorbeikam, um die Bande auszuräuchern - und wenn, dann wären die Jungs sicher lange im Voraus von ihren "Halcones", den Falken, gewarnt worden. Die nächste Ortschaft war San Francisco, wo wir gefragt wurden, für welche politische Partei wir denn hier Werbung betreiben würden, schliesslich fehlten nur noch drei Wochen bis zur Wahl des Präsidenten. Bei 2760 m erreichten wir eine Passhöhe, danach folgte das Holzfällerdorf San Jose de Causas und kurz darauf wunderschöne, riesige Agaven im Tannenwald, die auf den dunkelgrünen Blättern eine tolle Blattzeichnung hatten, allerdings nicht so ganz mit einer A. inaequidens ssp. barrancensis übereinstimmten. Nach ungefähr 72 Kilometern von der asphaltierten Hauptstrasse auf schlechtesten Pisten und durch spektakulärste Landschaften hatten wir die Abzweigung nach Las Cebollas und Tayoltita erreicht.



Es war mittlerweile späterer Nachmittag. Wie üblich zogen sich langsam dicke Regenwolken über den Bergen zusammen. Und Tayoltita mit einer heissen Dusche und einem bequemen Bett war immer noch 40 Kilometer entfernt. Wir hatten immerhin die Hoffnung, dass diese Hauptpiste, die auch vom offiziellen Bus aus Durango gefahren wird, etwas besser war als was wir bisher gefahren waren. Leider erfüllten sich unsere Hoffnungen nicht. Die Piste war zwar etwas breiter, doch dafür gab es mehr Verkehr, der sie auch ordentlich zerstört hatte. Kurz hinter Las Cebollas bewunderten wir einmal mehr die tollen, abgerundeten Felswände, in denen Agave inaequidens ssp. barrancensis zu Tausenden hing. Ausserdem gab es A. multifilifera, Echeveria pringlei var. parva, einen Echinocereus sp., die übliche Mammillaria und ein einziges, komplett unzugängliches Polster von Graptopetalum amethystinum. Nun ging es in Haarnadelkurven nach unten und wir sahen mehr Echeveria pringlei var. parva, zusammen mit Sedum copalense. Bald erhaschten wir den ersten Blick auf Tayoltita am Schluchtengrund, doch die Piste schlängelte sich endlos entlang der fast senkrechten Bergketten, bis wir endlich den Berghang gleich über Tayoltita erreichten, wo die Piste in endlosen Haarnadelkurven bis ins kleine Städtchen hinunterkurvte. Wie üblich herrschte in Tayoltita ein Verkehrschaos, weil die meisten Gassen beidseits befahrbar sind und ausserdem Autos geparkt sind. Wir schafften es bis an die Ecke des Hotels "La Parroquia", das eigentlich nur den Minenarbeitern und Ingenieuren vorbehalten ist, doch die nette Frau erinnerte sich an uns und fand genau noch ein Zimmer mit drei Betten, das wir uns nun teilten.



Eine heisse Dusche, das Zimmer mit Air Condition, das Hotel direkt im Zentrum, und gleich um die Ecke ein nettes Restaurant im ersten Stock, wo es eiskaltes Bier und ausgezeichnetes Essen gab. Richtig gesättigt plauderten wir noch eine ganze Weile mit den Nachbarn des Hotels, die sich ebenfalls an uns erinnern konnten. Einer der Söhne mit dem höchstinteressanten Namen Inri Salvador hatte eine DVD über Tayoltita produziert. Für die Nichtwissenden unter unserer Leserschaft: Inri bedeutet "In Nomine Rey Iudios". Wir müssen allerdings zugeben, dass uns der Vorname Inri mehr begeisterte als seine DVD. Erschöpft sanken wir nachher ins Bett und nicht einmal Jean-Marc's Schnarchen konnte uns aufwecken.



Juni 2012



Julia Etter & Martin Kristen