travelog 23






Schultag in La Soledad



In den südlichen Ausläufern der Sierra de la Giganta, bei der kleinen Ortschaft La Soledad (= die Einsamkeit), bestehend aus einigen Schulgebäuden und wenigen Betonhäuschen, legten wir einen kurzen Halt ein. Hier wollten wir uns bei Einwohnern nach dem Arroyo San Antonio del Coyote erkundigen, der als Standort einer Dudleya in unseren Büchern genannt wird. Diese einfache Frage artete in ein grösseres Unterfangen aus...



Die Gruppe von Männern, die wir befragten, hatten alle eine eigene Meinung. Mal war der Ort mit unserem Auto problemlos erreichbar, mal musste man 4 Stunden auf einem Maultier hinreiten. Einige meinten sogar, die von uns gesuchte Pflanze gesehen zu haben. Allerdings differierten hierüber die Meinungen sehr. Einer hatte sie gleich hinter seinem Rancho gesehen, ein anderer wollte sie weit oben in den Felswänden des Cerro Mechudo gesehen haben. Während dieser verwirrenden Diskussion sammelten sich immer mehr Leute um uns und unseren PocoLoco herum. Schliesslich kam auch noch ein Lehrer des örtlichen Internates hinzu, Maestro Isidro, wie er sich uns vorstellte. Er war hellauf begeistert von unseren Plänen und unserer Suche nach Pflanzen. Und witterte sogleich seine Chance: Wir sollten doch eine Stunde lang seinen SchülerInnen von unserer Arbeit erzählen, ihnen die Flora ihres Heimatstaates und speziell ihrer Umgebung hier etwas näherbringen, ihnen beweisen, dass Wissenschaftler keine alten Männer mit grauen Haaren, langem Bart und wenig Spass am Leben sein müssen, und sie v.a. auf die Wichtigkeit der Erhaltung dieser ihrer Natur hinweisen. Nichts leichter als das, mögen vielleicht viele denken. Wir jedoch wussten, dass wir diese Schulstunde in spanischer Sprache würden abhalten müssen - was besonders bei den botanischen Fachausdrücken recht grosse Probleme mit sich bringen würde. Schliesslich erklärten wir uns - nicht ohne ein gewisses Zögern - bereit, den Kindern etwas von unserer "Arbeit" zu erzählen. Erstens konnte das unserem Spanisch nur förderlich sein, zweitens bekamen wir so Einblick ins hiesige Schulwesen, und drittens gewannen wir neue Freunde.



Es war bereits Freitag nachmittags, die letzte Schulstunde vorüber, sodass wir uns bereit erklärten, den kommenden Montag in der Nähe abzuwarten. Übers Wochenende kletterten wir in der Umgebung herum, immer in der Hoffnung, die Dudleyen auch anderswo zu entdecken. Auf einer dieser Erkundungstouren wurden wir zum Kaffee eingeladen und mussten natürlich wieder alles mögliche über die Schweiz erzählen. Die Preisfrage war nun, wo denn nun dieses kleine Land überhaupt liege. Der Vater vermutete es in Afrika. Die Mutter meinte, es müsste irgendwo bei England sein. Als wir ihnen dann noch erklärten, dass England eine grosse Insel sei, war die Verwirrung komplett. Die einzige Kunde, die aus Europa bis hierher gedrungen war, war der Tod der Königin von England in Frankreich (wir brauchten einige Zeit, herauszufinden, dass Lady Diana damit gemeint war), daher war ihnen wohl auch England bekannt. Schlussendlich räumte ein Blick in die Schulbücher der Mädchen alle Unklarheiten im Bezug auf die geographische Position der Schweiz aus.



Natürlich bereiteten wir auch fleissig unsere kleine Schulstunde vor und verbrachten einige Stunden über das Wörterbuch gebeugt. Maestro Isidro war begeistert von unseren Ideen und wollte ausserdem alles über die Schweiz, Österreich, Europa und unsere Reise wissen. Seit einem Jahr wohnt er hier in La Soledad in einem traurigen Betongebäude, das normalerweise dem zweimal pro Monat vorbeikommenden Doktor als Praxis dient. Es ist ein hässliches kleines Haus ohne Elektrizität. Im Winter sind die Räume bitterkalt und Isidro schläft mit sieben Wolldecken. Im Sommer ist die Hitze nicht auszuhalten und Isidro zieht es deshalb vor, draussen zu nächtigen. Diese Betonhäuschen sind der letzte Schrei hier, ein Zeichen des Luxus, nur die Satellitenschüssel fürs Fernsehen steht noch höher im Rang. Andere Häuser besitzen ein kleines Solarpaneel, das ihnen Strom für eine Glühbirne liefert. Doch weil der junge Lehrer mit seinen fortschrittlichen und leicht ökologisch angehauchten Ideen etwas im Clinch mit dem Direktor steht, erlaubt ihm dieser nicht, die bereits bis zum Haus verlegte Leitung anzuschliessen. Der Lehrer muss also seine Hausaufgaben bei Tageslicht erledigen, sein Abendessen im Licht der Taschenlampe draussen auf der kleinen Feuerstelle zubereiten und möglichst schon im Bett liegen, wenn es draussen dunkel wird. Im Zimmer stehen eine Bettstatt, ein Tisch und vier Plastikstühle. Auf einer Mauer befinden sich seine Essensvorräte, Thunfischdosen, Maiskörner, ein Glas Mayonnaise, Pan Bimbo (weiches Toastbrot nach amerikanischem Vorbild) und einige Kekse. In einer Ecke liegt ein Haufen Orangen vom Nachbar-Rancho, fliegengeschützt unter einem Netz weitere Früchte und Gemüse.



An der Wand hängt hinter Plastik das Anschauungsmaterial für die sexuelle Aufklärung der PatientInnen - je ein Schnittbild durch die weibliche und die männliche Geschlechtsanatomie, das Bild einer in eine Gebärmutter eingesetzten Spirale und ein verstaubtes Kondom in Originalverpackung. Frauen wird hier auf Kosten der Regierung die Spirale eingesetzt, erzählte uns Isidro. Sie würden anscheinend keine Ahnung haben, was ihnen da eingesetzt wird und was es bewirkt, was wir allerdings nicht so ganz glauben wollten. Lange Diskussionen mit Isidro zeigten, dass er froh war, mit jemandem über Gott und die Welt reden zu können. Dieses Nest hier scheint ihn schon etwas vom Rest der Welt zu isolieren und er steht mit seinen für diese Bauern revolutionären Ideen auf verlorenem Posten. Von der Schweiz wusste er überhaupt nichts. Ein Ranchero hatte früher gemeint, in der Schweiz wären Drogen legal, es wäre das freieste Land auf der Welt, es gäbe viele Banken und die Schokolade wäre sehr gut. In einem Geschichtsbuch fanden wir dann doch einige Schweizer, u.a. Zwingli und Calvin. Von Österreich konnte er immerhin zwei berühmte Namen in einem Atemzug nennen: Mozart und Schwarzenegger. Ersterer würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn er mit letzterem in einem Satz genannt würde. Letzterer wäre entsetzt über die Betonung seines Namens: "Sworzeneier". Klingt ähnlich wie "schwarze Eier" (= "huevos negros"), was wir Maestro Isidro auch zur allgemeinen Erheiterung erklärten. Gegen Abend zeigte uns Isidro einen Wasserfall und einen Badepool, die man in dieser trockenen Zeit in der Gegend gar nicht vermutet hätte. Abends brutzelten wir auf seiner Feuerstelle gemeinsam Quesadillas, dazu reichte er einen Orangenwein, den ein Bauer in der Gegend herstellt. Uns zu Ehren sang er anschliessend mit einem einheimischen Ranchero mexikanische Volkslieder, die von viel Liebe, Sehnsucht und schönen Mädchen handelten. Zum Abschluss liess er es sich jedoch nicht nehmen, beim Licht der Taschenlampe noch ein Lied der Beatles ("Yesterday") vorzutragen, bei dem wir zwar die Melodie wiedererkannten, sein englischer Text jedoch war völlig unverständlich.



Der nächste Morgen war ruhig. Julia erstand bei einer Bäuerin noch einen queso fresco ("fresquecito" - ganz frisch, wie es ein Ansässiger lächelnd nannte) für ein paar Pesos. Bedeutend billiger als in jedem Geschäft.



Gegen 13:30 Uhr fanden wir uns denn im Schulhof ein zur beanraumten "Konferenz", wie es Maestro Isidro hochtrabend nannte. Schülerinnen und Schüler aller Alterskategorien wurden zusammen- getrommelt und mussten sich teilweise noch ihre Sitzgelegenheiten aus anderen Klassenzimmern besorgen gehen. Maestro Isidro begrüsste dann Schülerinnen, Schüler und eine andere Lehrkraft. Wir wurden als "grosse Wissenschaftler" mit einem kräftigen Applaus empfangen. Wir konnten uns unser Grinsen nicht verkneifen. Sodann führte er kurz aus, warum wir nach La Soledad gekommen seien und übergab uns das Wort. Julia gab einen kurzen Überblick über unser Herkunftsland, die Schweiz und ich selbst erklärte (in etwas holperndem Spanisch), nach welchen Pflanzen wir suchen würden, was der Begriff "Sukkulenz" bedeute und wie wir mit Hilfe unseres Computers und der Digitalfotografie Pflanzendaten sammeln würden.



Anhand praktischer Beispiele wurde dann auf dem Schulhof mit einem Hand-GPS-Gerät die globale Position bestimmt, ein Digitalbild in der Klasse geschossen, das dann sofort auf den mitgebrachten Laptop übertragen und allen Anwesenden sofort vorgeführt wurde. Während ich damit beschäftigt war, all diese Dinge vorzuführen, nahm sich Julia die Zeit und fotografierte gleich auch noch unauffällig im Klassenzimmer (ein besonders schönes Bild, das wir Euch nicht vorenthalten wollen, zeigt das durchschlagende Interesse an unseren Ausführungen von vier herumlümmelnden Buben). Maestro Isidro erklärte sodann anhand eines vorher auf die Wandtafel geschriebenen Schemas den wissenschaftlichen Aufbau des Pflanzenreiches. Dies klang sehr professionell, und nur wir wussten, dass ich das Schema vorher aus unseren klugen Büchern herausgeschrieben hatte.



Dann wurde zur Fragestunde übergegangen. Betretene Gesichter und leises Getuschel und Gekicher überall. Nur eine einzige Frage wurde von einem Mädchen gestellt: ob wir denn auch Pflanzen oder Teile davon sammeln würden ? Julia wies auf die aktuelle mexikanische Gesetzeslage hin, dass es nämlich landesweit verboten sei, Pflanzen oder auch nur Teile davon zu sammeln und dass wir uns nur auf die Fotografie und das Sammeln von Daten über die angetroffenen Pflanzen konzentrieren würden. Ansonsten wurden noch die neugierigsten anderen Fragen beantwortet: wie alt wir seien, ob wir verheiratet seien, wie viele Kinder wir hätten ...



Fragen, die die Jugend sichtlich mehr interessierten als wissenschaftlicher Kram. Am Ende wurde von uns noch ein abschliessendes Statement ("conclusión") erwartet und so baten wir die Anwesenden, doch in Zukunft ihre umgebende Natur nicht mit Müll zu verschandeln, Pflanzen nicht aus blossen vandalistischen Anwandlungen heraus zu beschädigen und Pflanzen, die man - aus welchen Gründen auch immer - eliminieren musste, durch Auspflanzen von neuen Pflanzen desselben Typs wieder zu ersetzen. Nach Abschluss der "Konferenz" überreichten wir noch drei Schweizer Schokoladen (aus unserer "eisernen Reserve" - schnüff) und es wurde (auch besonders deswegen...) nochmals heftigst geklatscht - dieser Teil der Übung schien dem Plenum mit Abstand den meisten Spass zu machen - und wir waren entlassen.



Dem Maestro Isidro versprachen wir, für einen Beatles-Liederabend wieder vorbeizukommen, was wir auch bald einmal tun werden.



Februar 2000



Julia Etter & Martin Kristen