travelog 36






Der Palmencanyon



Sie faucht ganz aufgeregt und mustert uns mit unverhohlenem Interesse. Das dunkelbraune, dichte Fell, der lange, buschige Schwanz und die hell gefärbten, brillenartigen Zonen rund um ihre Augen weisen sie aus als Vertreterin der Waschbärenartigen - es ist Frau Coati (Nasua nasua), die sich keine 10 Meter vor uns an einem verkohlten Palmenstamm (Brahea sp - eine blaugrüne Palme - Palma azul) festkrallt. Wir bleiben mucksmäuschenstill stehen. Über uns raschelt es in einer Palmenkrone und da geht uns ein Licht auf. Es ist nicht nur Frau Coati, sondern Mutter Coati, die wir da angetroffen haben. Zwei kleine Caotis, noch viel kleiner als ihre Mutter und sehr hellbraun gefärbt, klettern da herum. Nachdem sich alle von unserer Harmlosigkeit überzeugt haben, springen sie von den Palmen und ziehen sich, nicht ohne nochmals kräftig zu fauchen, in Richtung Felswand zurück. Wir bewundern ihre Fähigkeit, eine senkrechte Felswand mit spielerischer Leichtigkeit hinaufzuklettern. Und so verschwinden die drei putzigen Tiere aus unserem Blickfeld, ohne uns auch nur die kleinste Chance zu lassen, sie zu fotografieren.



Wir befinden uns heute in einem Palmencanyon. Doch lasst uns der Reihe nach erzählen, wie wir überhaupt dorthin kamen.



Wie üblich befanden wir uns auf der Suche nach ganz bestimmten Pflanzen, um sie am Standort zu dokumentieren (Agave fortiflora, Agave felgeri, Agave colorata und Agave chrysoglossa). Aus der wissenschaftlichen Literatur wussten wir, dass diese Pflanzen in den Bergen nördlich und nordwestlich der Bahía San Carlos (Sonora) wachsen sollen. Diese Cerros (wie die Mexikaner Berge nennen) sahen zwar aus der Ferne sehr hübsch farbig aus (gelb und rot gebändert) und gleichen einem Schweizer Emmentalerkäse mit vielen Löchern. Aus der Nähe jedoch mussten wir später feststellen, dass sie unbesteigbar waren. Vulkanischen Ursprungs, sehen die Erhebungen wie grosse erodierte Blasen aus, deren Ränder sich zu senkrechten Felswänden erheben. An einer Stelle, die uns als extrem flach vorkam, probierten wir, aufzusteigen, da wir die grossen Exemplare von Agave fortiflora durch unseren Feldstecher in den Felswänden hoch über uns blaugrün leuchten sahen. Doch wir mussten nach 200 Höhenmetern wieder umkehren, da zwar das Aufwärtsklettern (wenn auch mit Mühe) sich als möglich erwies, der Blick zurück jedoch immer furchterregender wurde.



Ein in Marina San Carlos wohnender Amerikaner, mit dem wir ins Gespräch kamen (PocoLoco hilft da oft ganz massgeblich mit), gab uns den entscheidenden Tip, der uns letztendlich zum Zugang des Palmencanyons führen sollte, in dem wir uns heute befinden.



Der Canyon beginnt ganz unspektakulär. Ein Flussbett mit Geröll, links und rechts von dornigem Gebüsch gesäumt. Dann rücken die roten Felswände enger zusammen, die ersten Palmen stehen wie Wächter im Bachbett. Es sind zwei Palmenarten. Eine mit blaugrüner Blattkrone (Brahea sp.) und eine andere, bis zu 30 Meter hoch wachsende schlanke Palme mit grüner Blattkrone (Washingtonia robusta). Letztere soll sogar bis zu 150 Jahre alt werden, lassen wir uns durch unsere mitgeführte Dokumentation aufklären. Wenn man um die erste grössere Felszunge herumkommt, da stehen sie schon - grosse Palmengruppen, zwischendurch mal ein Feigenbaum und an den mehr oder weniger senkrechten Wänden kleben die schönsten Vertreter von Agave chrysoglossa (eine der sogenannten "Kliffhänger" - Pflanzen ohne Randdornen, da sie keine zu ihrem Schutz brauchen - welche grösseren Pflanzenfresser können schon senkrechte Felswände erklimmen !? - siehe auch unseren kommenden Artikel in der italienischen Zeitschrift "Cactus&Co") und Agave fortiflora (jene jedoch mit recht ausgeprägten Dornen).



Wir entschliessen uns, den Canyon soweit wie möglich hinaufzuwandern. Grosse Felsbrocken erschweren den Aufstieg beträchtlich. Doch andere Leute vor uns haben ihre Spuren hinterlassen und so geht es langsam aber stetig den Canyon bergauf. Mal muss man sich zwischen zwei riesigen Felsblöcken durchzwängen, mal etwas Kletterkünste anwenden, mal über einen sumpfigen Tümpel hupfen oder sich vorsichtig über alte, heruntergefallene Palmenblätter tasten. Da und dort haben an schier unüberwindlichen Stellen hilfreiche Gesellen auch einen toten Baumstamm hingelehnt und sogar treppenartige Stufen hineingeschnitzt, um einem das Fortkommen zu erleichtern.



Immer wieder kommen wir an Wasserlöchern vorbei, teilweise recht tiefe Tümpel, in denen Papyrus und Schilf wächst. Sicherlich werden auch Frösche anwesend sein. Sie zeigen sich aber nicht und lassen sich auch nicht vernehmen.



Leider gibt es immer so fürchterlich "witzige" Leute, die es eine ganz tolle Idee finden, die abgestorbenenen, trockenen Blätter der Palmen (die sich wie ein Bart an den Stamm anlegen und dann ein ausgezeichnetes Refugium für Kleintiere und einen Nistplatz für Vögel abgeben) anzuzünden. Auch dieser Canyon wurde leider vor nicht allzu langer Zeit von solchen Armleuchtern besucht und das Bild, das sich einem bietet, spricht eine eindeutige Sprache.



Nach etwa einer halben Stunde kommen wir zu einer Stelle, wo sich der Canyon öffnet, wo ein Seitencanyon dazustösst und wo die Felswände durch Geröllhänge ersetzt sind. Zwar auch steil und von Felsbändern durchzogen, aber, wenn auch mit Schwierigkeiten, begehbar. Wir sichten die leuchtend gelbe Kerze einer blühenden Agave chrysoglossa in einigermassen erreichbarer Distanz und steigen auf. Aus der Nähe ist dieser drei Meter hohe Blütenstand ein Naturschauspiel sondergleichen. Hunderte, wenn nicht tausende von kleinen gelben Blüten reihen sich aneinander. In jeder offenen Blüte glitzern die klebrigen, süssen Nektartropfen. Ein Kolibri umschwirrt uns und schimpft uns an. Wir fühlen uns richtiggehend als Eindringlinge, denn schliesslich verteidigt er nur "seinen" Futternapf.



Beim Abstieg zurück in den Canyon kommen wir an einer Stelle vorbei, wo die Blasen im Fels aufgesprungen sind und überall ihren glitzernden Inhalt zeigen - Kristalldrusen, wohin das Auge blickt. Leider sind sie so festgebacken im Untergrund, dass wir es uns wohl oder übel verkneifen müssen, ein Müsterchen mitzunehmen.



Da wir wegen der grellen Sonne mit unserer Fotografiererei noch warten müssen, erkunden wir den weiteren Verlauf des Canyons. Julia kommt an eine Stelle, an der sie den freien Blick ins Tal, aus dem wir aufgestiegen sind, und bis hinaus aufs Meer hat. Sie schaut mit dem Fernglas hinunter und entdeckt einen anderen Wanderer. Der Zufall will es, dass jener auch gerade mit seinem Fernglas heraufschaut. Man winkt und grüsst sich mit den Ferngläsern an den Augen und lacht sich eines.



Die Sonne entschwindet langsam hinter den Felszinnen, welche lange Schatten zu werfen beginnen. Wir packen unsere Kameras, das Stativ und machen uns ans Werk. Teilweise ist es gar nicht so einfach, an die fotogensten Pflanzen nahe heranzukommen, da das Buschwerk dicht an dicht steht und Dornen einen überall am Fortkommen hindern wollen. Da und dort muss man sich mit der Gartenschere aus diesen "Krallen" vorsichtig herausschneiden. Und doch geht es nicht ganz ohne den üblichen Blutzoll ab. Wir finden eine sehr schön gebänderte Agave colorata, die wir sogleich auf Film bannen müssen. Neben den vier schon genannten Agavenarten treffen wir auf eine fünfte (Agave angustifolia), eine in Mexiko sehr weit verbreitete Art, die hier zwischen allen anderen wächst. Es ist sehr selten, so viele verschiedene Spezies an ein- und demselben Ort wachsen zu sehen, ohne dass sie sich stark vermischen und Naturhybriden bilden. Sie werden wohl zu unterschiedlichen Jahreszeiten blühen oder unterschiedliche Bestäuber haben.







Als die Sonne ganz verschwunden ist und nur noch die roten Felsen röter tönt, denken wir an die Rückkehr zu unserem fahrenden Häuschen. Bergab klettert es sich um vieles einfacher, v.a. wenn man sich immer das kalte Tecate (mexikanisches Bier) aus dem Kühlschrank vor Augen hält, und so treffen wir kurz darauf bei PocoLoco ein, als die letzten Sonnenstrahlen gerade noch die Berggipfel dunkelrot färben.



Februar 2001



Julia Etter & Martin Kristen