travelog 37






Über die Sierra Madre Occidental



Die 318 Kilometer zwischen Mazatlán und Durango sind bekannt als eine der spektakulärsten und schönsten Strecken in ganz Mexico. Jeder Reiseführer legt einem diese Strasse wärmstens ans Herz, trotzdem begegnen einem fast keine Touristen. Man könnte die Strecke bequem in einem Tag schaffen, doch wir brauchen dafür 14 Tage. Von Meereshöhe klettert die Strasse auf 2900m hoch und endet in Durango auf 1900m. Vom Pazifik mit seinen kühlen Brisen und dem fast schon tropischen Regenwald fährt man durch die "tierra caliente", wo kein Lüftchen mehr weht, die Hitze steht und der Schweiss rinnt. Kaum gewinnt man etwas an Höhe, erfrischen einen kühlere Temperaturen, ein angenehmer Wind und abends braucht man sogar eine dünne Jacke. Auf 2900m dann liegt morgens Rauhreif auf den Wiesen und die Landschaft erinnert mit den Pinienwäldern und den Holzhäuschen mit Butzenscheiben an die europäischen Alpen. Bis Durango wechselt das Klima nochmals, es ist wüstenhaft, heiss und trocken, die Vegetation erinnert einen an den Südwesten der USA oder Texas.



Nach einigen Tagen am Strand und etwas Rummel in Mazatlán ("spring break", Frühlingsferien an amerikanischen Schulen, die jedes Jahr Tausende junger Leute nach Mazatlán bringen, die hier Happy Hour den ganzen Tag lang geniessen, sich einen Sonnenbrand holen, und sonst alles mögliche tun, was daheim unter den strengen Augen der Gemeinde verpönt wäre - "Sex, Drugs and Rock&Roll") starten wir frühmorgens. Der erste Stop liegt in Copala, einem kleinen Dorf mit einer hübschen Kirche aus dem 18. Jahrhundert, einer schattigen Plaza, Bollensteingässchen, herumstreunenden Schweinen und kleinen Buben, die einen gegen Geld auf ihrem Esel sitzen lassen. Ein junger Mexikaner spricht uns nach kurzer Zeit auf PocoLoco an und wir wollen schon etwas unwirsch reagieren (nicht schon wieder die üblichen Fragen...), als er uns in seinen Garten einlädt. Wir sollten uns doch soviel Gemüse und Kräuter nehmen, alles biologisch angebaut hält er ganz stolz fest, wie wir nur wollten ! So ein Angebot kann man natürlich nicht ungenutzt verstreichen lassen und so kommt es, dass wir fast eine Woche bei Luis und seiner Familie verbringen. Rossana kommt aus Italien, Luis aus Mazatlán, und zusammen mit ihrem 1 1/2 jährigen Sohn Emi reisen sie die Hälfte des Jahres mit dem Geld, das sie sich in den Wintermonaten in Copala verdient haben, nach Italien. In einem kleinen Laden verkaufen sie Kunsthandwerk: Ledermasken, die etwas an den Karneval in Venedig erinnern. Tonengelchen, Broschen und Meerjungfrauen mit Lederaccessoires verziert. Das verkauft sich gut bei den amerikanischen und kanadischen Touristen, die auf ihrem Ausflug vom Kreuzfahrtsschiff ein kleines Souvenir aus Copala nach Hause bringen wollen. Unter Palmen und Bananenstauden wird das Leder bearbeitet, während wir faulenzen, lesen und am Computer arbeiten. Morgens und abends holt man sich im Garten das Gemüse und die Kräuter, um das Mittag- und Abendessen zuzubereiten. Die hauseigenen Hühner stellen die Eier, Honig, Tortillas und Käse kommen von Bauern aus dem Dorf. Ein kleines schwarz-weisses Häschen ist der neueste Bewohner im Gemüsegarten, wo es sich an Fenchelgrün, Basilikum, Salat und Melonenblüten gütlich tut. Es ist ein ruhiges Paradies, Elektrizität fand den Weg erst in den 70-er Jahren bis hierher und es gibt nur ein einziges Gemeinschaftstelefon im Dorfladen. Zur Feier des Dorfheiligen San José wird ein kleines Feuerwerk veranstaltet, Dorfmusikanten singen schon vor Mittag, wenn man ihnen ein paar Bier spendiert, und abends wird zum Tanz aufgespielt. Wenn nur die Hitze und die Mücken nicht wären, könnte man sich hier glatt häuslich einrichten !



Hinter Copala klettert die Strasse in steilen Kurven und Kehren in die Berge hinauf. Spätestens beim ersten Lastwagen, der einem in einer dieser Kurven auf der falschen Fahrspur entgegenkommt, lernt man die Gesetze dieser Strecke: Augen offen halten und nach LKW's Ausschau halten - kommt einem einer in einer Kurve entgegen, sofort anhalten und warten, bis der andere die Kurve ausgefahren hat. Es gibt sogar Schilder, die vor einer Kurve darauf hinweisen, dass Fahrzeuge auf die Gegenfahrbahn ausschwenken könnten. Auch aus anderen Gründen ist es ratsam, die Augen auf der Strasse zu behalten: ohne Randstreifen ist die Strasse sehr schmal und fällt oft gleich mehrere Hundert Meter in die Tiefe ab. Von Unglücksraben zeugen die vielen Kreuze am Strassenrand, die mit Plastikblumen und farbigen Kränzen geschmückt sind. Immer wieder eröffnen sich einem phantastische Blicke zurück Richtung Mazatlán. Leider können wir die Strecke nicht so gut geniessen, weil ein Vorderreifen Luft verliert. Nun sind wir froh, dass hier so viele Lastwagen unterwegs sind, was bedeutet, dass es in fast jeder noch so kleinen Ansiedlung eine "Llantera" oder "Vulka" gibt. Bei allen prangt das Schild "24 Stunden offen". Unser Werkstattbesitzer muss erst noch etwas dazu überredet werden, bevor er sich bereit erklärt, unseren (in seinen Augen etwas sehr grossen) Reifen zu reparieren. Wir haben schon Erfahrung damit, hatten wir doch vor zwei Wochen im gleichen Reifen schon einmal ein Loch. Damals war's eine grosse Schraube, deren Loch schnell geflickt war. Diesmal erfordert es einige Arbeit, bis Martin mit Hilfe des Mechanikers eine identische Schraube (keine 10cm von der alten Stelle entfernt) aus dem Gummi herauszaubert. Von aussen würde man es der Garage nie geben, doch sie ist extrem gut ausgerüstet und so ist die Reparatur im Nu erledigt. Selbstverständlich bezahlen wir die übliche Touristenaddition, billiger als ein neuer Reifen ist es alleweil !



Auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz entdecken wir eine kleine Piste, die von der Hauptstrasse wegführt. Bald haben uns zwei Buben ausgemacht, die uns zu Agaven (Agave maximiliana var. katharinae) führen, die wir gerne fotografieren wollen. Für ihre Dienste wollen sie kein Geld, dafür aber eine echte Schweizer Schokolade. Schliesslich werden wir auf ihr Rancho eingeladen, wo wir einige Tage steckenbleiben und einmal mehr die mexikanische Gastfreundschaft geniessen. Doch davon werden wir Euch in einem der nächsten Reiseberichte mehr erzählen.



Die nächsten Tage vergehen mit der Suche nach verschiedenen Pflanzen. Am Strassenrand wachsen wunderschöne Exemplare von Echeveria dactylifera und Echeveria affinis. In den Felswänden hängen graublaue Rosetten von Agave pedunculifera und an den etwas zugänglicheren Orten Agave maximiliana var. katharinae mit hohen, gelb blühenden Blütenständen. Je höher wir kommen, desto öfter begegnen wir den regelmässigen Rosetten von Agave schidigera. In schattigen und etwas feuchten Canyons suchen wir nach Sedum, meist erfolglos. Doch wir finden Graptopetalum amethystinum, das fast ausnahmslos völlig unzugänglich in senkrechten Felswänden hängt. Hier müssen wir die schweren Objektive und Konverter auspacken, um die Pflanzen einigermassen formatfüllend fotografieren zu können. Und in so einer schattigen Kurve treffen wir auf andere Pflanzenfreunde, die auf der Suche nach einer seltenen Mammillaria sind. Man kommt ins Gespräch und stellt fest, dass man gemeinsame Bekannte hat - ja, sie haben von ebendiesem Bekannten schon von uns und vor allem von PocoLoco, unserem Auto, gehört !





Die Nächte verbringen wir in kleinen Ortschaften. Die Strecke ist bekannt für Überfälle und vor 8 Tagen wurde an einem Aussichtspunkt ein Tourist mit einer Waffe bedroht. So ist es uns nicht ganz wohl, irgendwo abseits zu parken, wie wir das üblicherweise tun. In den kleinen Siedlungen, die vom Holz leben, kommt man kaum zu einem tiefen Schlaf. Neben Hähnen, die die ganze Nacht lang krähen ("singen" heisst das auf spanisch !), bellenden und heulenden Hundemeuten und brünftigen Eseln, reisst einem immer wieder das fröhliche Begrüssungshupen eines Lastwagens aus dem Schlaf, der das ganze Dorf wissen lassen will, dass er heute Nacht unterwegs ist. Das schlimmste jedoch sind diejenigen Lastwagen, die eine Retarderbremse ohne Schalldämpfer haben - und das ist die Meherheit. Ungeniert bremsen sie durchs ganze Dorf hindurch, das gigantische, ohrenbetäubende Furzen wiederhallt von den steilen Felswänden und kommt als zigfaches Kreischen und Röhren zurück. Man merkt es gewissen mexikanischen Lastwagenfahrern richtig an, wie sehr ihnen der Lärm Spass macht und wie gern sie andere Leute damit beehren.



Belohnt wird man dafür tagsüber mit phantastischen Sonnenaufgängen mit zartrosa Wölkchen über blauen Bergketten und tiefen Canyons, die sich bis an den Horizont hinziehen. Immer wieder führen kleine Seitenpisten in halsbrecherischen Spitzkehren die steilen Berge hinunter in kleine Holzfällersiedlungen. Von weit unten hört man die Hühner, fröhliche Musik und Kindergeschrei. Wir wandern auf einigen dieser kleinen Strässchen etwas hinab, immer auf der Suche nach Pflanzen. In der Gegend des "Espinazo del Diablo" (= des Teufels Rücken) werden die Ausblicke und Panoramen immer spektakulärer. Die Strasse klebt an den Felswänden und an einem Punkt fällt der Fels auf beiden Seiten der Strasse senkrecht in die Tiefe. Genau hier gibt es eine kleine Garküche, wo sich die Bewohner aus La Ciudad, einer 20km entfernten Holzfällersiedlung, mit ihren Ständen abwechseln. Heute gibt es "Gorditas", dicke Tortillas, die als Teigtaschen aufgeschnitten werden und mit Käse und "Nopalitos" (Opuntienblätter), Bohnen, Hühnerragout oder Hackfleisch mit grünem oder rotem Chili gefüllt werden. Zum kulinarischen Genuss kommt der Genuss für die Augen, wenn man fast nach allen Richtungen endlose Bergketten und tiefeingeschnittene Canyons sieht.



Dann befinden wir uns urplötzlich auf dem zentralmexikanischen Altiplano, der hochgelegenen Ebene zwischen der Sierra Madre Occidental und der Sierra Madre Oriental. Es folgen lange Strecken durch mehr oder weniger dichte Pinienwälder, die langsam aber sicher abgeholzt werden. Bei Buenos Aires campieren wir auf 2750m auf einer hübschen Waldlichtung. Die Kinder der kleinen Siedlung, mehr als zwei-drei Häuser und ein Restaurant sind es nicht, haben uns bald entdeckt und sind nach der ersten Kontaktaufnahme und ein paar Süssigkeiten auch überhaupt nicht mehr scheu. Kleine weisse Hündchen wollen sie uns verkaufem, weil sie sie abtun müssen, da sie nicht einmal genügend Essen für sich selber haben. Verschnupft und verrotzt sind sie, die Kleider und Schuhe fallen auseinander, doch als wir ihnen Äpfel, Eier, Tortillas und Bohnen bringen, stellen wir fest, dass es immerhin für einen Fernseher reicht. Die Mutter der sechs Kinder ist sprachlos und meint nur, dass Gott uns eines Tages bezahlen wird - was wir natürlich hoffen... Am nächsten Tag kommen die Kinder wieder vorbei und wollen deutsch lernen. Auf der Karte zeige ich ihnen, wo sich die Schweiz befindet und wo hingegen Mexico liegt. Unvorstellbar ist es für sie, wie man mit diesem grossen Auto von so weit weg ausgerechnet nach Buenos Aires gekommen ist. Sehr interessiert werden unsere Grillkünste beobachtet und kommentiert. Der Sohn der Restaurantbesitzer meint zwar, wir sollten besser im Restaurant essen, doch wir beschränken uns gerne auf Tortillas, geröstete Zwiebel, Salat und etwas Hühnerbrust vom "Comal".



La Ciudad und El Salto sind beides Holzfällerstädte, wo in praktisch jedem Hinterhof eine Sägemaschine steht und Baumstämme von der Rinde befreit werden. Die Wellblechdächer gleissen in der Sonne, der Verkehr ist beängstigend, doch auch nur solange, bis man wieder in den weiten Pinienwäldern und gegen Durango hin dem Grasland mit riesigen baumartigen Yuccas (Yucca decipiens) ist.



Ganz plötzlich liegt die Grossstadt Durango (600'000 Einwohner) vor einem und wir sind zurück in der Zivilisation und dem Luxus. Hier kann man BMW Z3 Cabrios und Chateau Petrus Wein kaufen. Hier gibt es edle Boutiquen und riesige Einkaufszentren. Sogar Wal Mart hat den Weg schon hierher gefunden. Beruhigend ist es, dass der "Mercado Publico" immer noch ein grosses verwirrendes Labyrinth aus schmalen Gässchen ist, wo man von der Schraube über das Radio, die Jeans und das enge Abendkleidchen bis zum Schweinekopf, lokalem Käse, Honig, eingelegten Chiles und duftenden Guayabas und Mangos alles kufen kann, was das Herz begehrt.



Für die 318 Kilometer zwischen Mazatlán und Durango haben wir volle zwei Wochen gebraucht. So haben wir auch mehreren neuen Freunden versprochen, dass wir im kommenden Jahr wiederkommen wollen, weil es noch so viel mehr zu sehen und entdecken gibt.



März 2001



Julia Etter & Martin Kristen