travelog 52






Ralf König lässt grüssen



"Die Leute müssen aber ein grosses Selbstvertrauen haben", sagen wir uns, als wir so mit der Menge mitschwimmen. Es ist der 29. September und wieder einmal findet eines der wichtigsten Ereignisse der Gay-, Leder- und S/M-Szene von Nordamerika statt: die Folsom Street Fair in San Francisco !



Wir sind überrascht, dass so etwas überhaupt in den USA (berühmt für seine prüde Einstellung zu allem, was nur im entferntesten mit Sex zu tun hat) möglich ist. Teils sind wir amüsiert, teils sogar richtig geschockt. Da gehen normal angezogene Männer vorbei mit geöffnetem Hosenschlitz, aus dem ein rosarotes Würstchen herausguckt; da stolzieren Felsen von Männern vorbei, deren über und über behaarter Oberkörper nur bekleidet ist mit ein paar dünnen Lederstreifchen oder massiven Ketten; da stolzieren Typen vorbei in Polizei-Uniform, die aber schon von ihren Bewegungen her keine Polizisten sein können; da tänzeln Transvestiten durch die Menge, die so grell geschminkt und aufgetakelt sind, dass einem schnell schlecht werden kann.



Wir fühlen uns manchmal richtiggehend in ein Comicbuch von Ralf König versetzt. Da gibt es die knallharten Typen in Lederkluft, mit zackigen Stiefeln, markiger Mütze und kernigem Geruch. Da gibt es die schönen Muskelmänner mit der lockig behaarten Gewichtheber-Brust und den knapp geschnittenen, ausgebeulten Hosen. Und da gibt es die Schmächtigen, die eben jenen Typen nachrennen.



Ein grosser Ring von Zuschauern zieht uns an. Da werden gerade drei halbnackte und ganz nackte Männer mit rohen Seilen gefesselt. Der vorderste kniet völlig nackt, ein Seil als Knebel durch den Mund gezogen, vor uns. Er wird von einem baumlangen Asiaten, dessen Haut vom vielen Öl, das er sich eingestrichen hat, glänzt und schimmert, kunstvoll gefesselt.



Dann passieren wir Frauen, deren blankes Hinterteil von Peitschenhieben blaurote Striemen aufweist. Eine andere schwebt vorbei in einem Lederkostüm, das ihre Brüste nur halb bedeckt. Das wäre an und für sich gar nichts besonderes hier, nur ist die Oberseite dieser Brüste bedeckt mit blutroten Einstichen von Nadeln.



Für einen Spendendollar kann man sich öffentlich den Hintern versohlen lassen. Der Erlös geht einem Aidswerk zu. Wir verzichten gern darauf, sehen aber interessiert zu, wie ein älterer Herr seinen Lustknaben immer wieder prügeln lässt und sichtlich Genuss daran findet.



Wir essen die obligate Festwurst mit Pommes Frites. Zwar etwas zu fett, etwas zuviel Knoblauch und leider auch nicht richtig heiss. Aber schliesslich gehört sowas ja zu einer solchen Fest- Atmosphäre ! Und abgesehen davon, diese Würste haben wenigstens Format...



Beeindruckt sind wir von der Nonchalance, mit der sich hier alle präsentieren. Hier darf ungeniert fotografiert werden. Obwohl uns selbst die Batterien für unsere Digitalkamera ausgehen, können wir so einige interessante Blicke in den Kasten kriegen. Ein Teil der hier gezeigten Bilder stammt jedoch aus der Kamera unserer Freunde Judy und Bob, mit denen wir hier sind. Bob kennt keine Scheu, spricht alle an und nähert sich mit seiner Linse bis auf Zentimeter an alles ran, was blankes Fleisch zeigt. Wir sind amüsiert !



Eine Feststellung, die wir auch machen müssen, betrifft den unglaublichen Anteil der fettleibigen bis monströsen Gestalten. Ein Abbild der amerikanischen Gesellschaft ? Sicherlich, wenn man davon liest, dass Fettleibigkeit Amerikas Gesundheitsproblem Nummer 1 ist.



Doch auch recht attraktive Gestalten trifft man an, teils verpackt in ganz geschmackvolle Kleidungskombinationen.



Nackte Hintern herrschen vor, die dazugehörige Vorderansicht manchmal nur unter einer knappen Klappe oder einem halbrunden Lederdom verborgen, manchmal auch ungehemmt präsentiert. Da stehen halbnackte Männer an den Strassenlaternen, die sich ungeniert vor der vorbeiflanierenden Menge an ihrem blauroten Stummel herumreiben. Dann passieren wir diese eine Gruppe von Männern, bei denen einer auf seiner Jacke am Boden kniet, sein Kopf unter dem Kilt eines Freundes verschwindet und sich da sichtlich an etwas erfreut, was man sonst in der Öffentlichkeit wohl kaum zu sehen kriegt.



Die Marktbuden verkaufen Zubehör des einschlägigen Marktes. Da kann man sich ganze Einrichtungen für die Folterkammer zulegen, da gibt es von Peitschen über Folterkreuze bis zu Kerzen und Seifen in Form eines Penis einfach alles zu kaufen, wenn auch für (unserer Meinung nach) teures Geld. Besonders interessant muten uns bunte Dildos und "butt plugs" in Form von Heiligen an: Baby Jesus, Moses, Buddha, Maria und viele mehr.







Immer wieder erstaunt es uns wie lässig Gruppen von Polizisten da herumstehen und die Menschen gewähren lassen. Ein Freiraum, den sie sichtlich brauchen. Alles verläuft ruhig und es schwebt ein Gefühl von Spass und Freude durch die flanierende Menge. Etwas komisch dünkt es einen dann, wenn man die Abschrankung, in der das alles stattfindet, verlassen will und seinen Becher Bier nicht mitnehmen darf. Das wiederum verbietet das amerikanische Gesetz - offen gezeigter Alkohol auf der Strasse !



Wir finden diesen Besuch in der Szene spassig und würden zu gern wissen, was Leute von Amerika sagen würden, wenn sie nur für einen Tag auf Besuch wären und per Zufall in diese Szenerie hineingeraten würden !



September 2002



Julia Etter & Martin Kristen