travelog 57






Exkursionen ins Feld



Normalerweise sind wir alleine unterwegs, weil man sich so um niemanden anderen kümmern muss. Wir können uns so lange Zeit nehmen wie wir wollen, dort herumsteigen, wo wir wollen, sogar dort übernachten, wo es uns gerade gefällt (und wo man uns lässt). Doch ab und zu ist es auch ganz lustig und v.a. interessant, mit anderen Pflanzenfreaks ins Feld zu ziehen. Man lernt neue Gegenden und Pflanzen kennen und kommt mal wieder unter die Leute. So wollen wir Euch dieses Mal ein wenig von verschiedenen kleineren Feldexkursionen erzählen, die wir im Laufe der letzten Zeit unternommen haben.



1) Mit Betty & Fitz im Feld



Alles fing damit an, dass wir im Feld die in einigen Reiseberichten schon erwähnten Fitz Maurice's kennenlernten und von ihnen nach San Luis Potosi eingeladen wurden. In dieser Gegend hatten wir sowieso viele interessante Pflanzen zu suchen und weshalb das nicht mit einem gemeinsamen Ausflug kombinieren !? Betty & Fitz haben da immer einige Mammillarien (ihr Spezialgebiet), die sie wiederbesuchen wollen, um ihre Studien voranzutreiben. Gerne schliessen wir uns an und entdecken dabei viele auch für uns sehr interessante Pflanzen. Zum Beispiel fahren wir in die Nähe von Ojuelos de Jalisco, wo die beiden den Original-Standort der bekannten Mammillaria schwarzii wiedergefunden hatten. Leider wurde dieser Standort in der Zwischenzeit stark ausgeraubt, doch wir finden trotzdem noch einige Pflanzen, ein Polster sogar in Blüte. Die gleichen Felswände sehen natürlich auch für Crassulaceen sehr verlockend aus und so finden wir denn auch Pachyphytum aff. hookeri in Blüte. Die rosaroten Blütenstände sind gut gegen den grauen Fels zu sehen. Dabei müssen wir für uns ungewöhnlich nur ganz wenig wandern, denn einer der Grundsätze der Fitz Maurice's ist es, so nahe wie möglich an einen Pflanzen-Standort mit dem Auto heranzufahren, um Energie zu sparen. Fitz findet denn auch immer irgendeinen Weg, sei es auch nur ein mehr oder weniger befahrbarer Trampelpfad, der uns näher an die Felsen bringt. Einmal landen wir inmitten eines stoppeligen Maisfeldes, bahnen uns einen Weg weiter, fragen einen Radfahrer nach dem Ausgang und landen tatsächlich auf einer einigermassen gut befahrenen Piste, auf der wir bis zum nächsten Canyon kommen.



Auf einem nächsten Ausflug will Fitz' Suburban nicht so richtig mitmachen. Das Auto macht immer lautere Geräusche und schliesslich ist der Lärm nicht mehr auszuhalten und wir alle kriechen unter das Auto. Und siehe da, der Auspuff ist abgebrochen. Also müssen wir umdrehen, doch Fitz macht es höllisch Spass, endlich mal mit einem richtig mexikanisch klingenden Auto durch die Dörfer zu fahren. Gerade in besiedelten Zonen gibt er extra viel Gas, damit wir auch weithin hörbar sind.



Weitere Ausflüge führen uns in die bergige Gegend östlich von San Luis Potosi. Da geht alles nach unseren Wünschen. Wir können uns so lange an einem Ort Zeit nehmen, wie wir wollen. Die Fitz Maurice's haben sicherheitshalber je ein Buch mitgenommen, weil sie schon herausgefunden haben, dass es länger dauern kann, bis wir alle unsere Fotos gemacht haben. So klettern wir in der Gegend herum auf der Suche nach den Pflanzen, die wir uns für diese Gegend herausgeschrieben haben. Wenn Fitz seine Mammillarien wittert, klettert er mit seinen beiden künstlichen Knien wie eine Bergziege in den Felsen herum. Manchmal reicht die Zeit trotzdem nicht, weil wir alle gerne neue Pisten ausprobieren und so auch schon mal in Ecken landen, wo wir eigentlich gar nicht hinwollten, wo es aber extrem interessant ist. Da fällt es einem dann schwer, vor dem Eindunkeln wieder zuhause zu sein.



Aber nicht jeder Ausflug führt uns richtig ins Feld. Man kann Pflanzen anschauen auch mit anderen Sachen kombinieren, so z.B. Rebozo-Herstellung in Santa Maria del Rio, Mezcal-Produktion in Jaral de Berrios, oder gar der Besuch des botanischen Gartens Charco del Ingenio in San Miguel de Allende, wo ein eventuell unbeschriebener Calibanus bestaunt und fotografiert wird.



Die Mittagessen sind jedesmal ein Erlebnis für sich ! Im Unimog leben wir im Gegensatz dazu spartanisch: Salat, Brötchen und was es eben sonst noch kaltes im Kühlschrank gibt. Nicht so bei Betty ! In der Küche werden schon am Vortag die Gerichte zubereitet und für jeden praktisch eingepackt. So erleben wir kulinarische Höhenflüge im Feld: Gefüllte Artischocken, panierte Hühnerbrust, ausgebackene Auberginen, Pastasalat an grüner Sauce. Zum Dessert dann kleine Muffins, Erdbeeren oder Weintrauben. Zwischendurch stärken wir uns mit Popcorn oder kleinen Käsebissen. Natürlich fehlt nie das Salz oder die Servietten, Betty hat an alles gedacht. Gerne geniessen wir diesen Luxus.



2) Mit Miguel Cházaro & Co. im Feld



Ganz anders gestalten sich die Ausflüge zusammen mit Botanikern aus Mexico, so z.B. mit Miguel Cházaro Basañez aus Guadalajara. Wir kennen uns per E-Mail und kommen schliesslich nach Guadalajara, wo wir ein paar Exkursionen zusammen unternehmen wollen. Er ist enthusiastisch und erscheint mit einer dreiseitigen Liste von Orten, die wir doch zusammen besuchen sollten. Als erstes steht die Barranca de Colimilla am Stadtrand von Guadalajara auf dem Programm, wo wir bestätigen sollen, ob es sich bei der dort vorkommenden Agave um Agave impressa handelt. Da er leider nicht mitkommen kann, schickt er uns mit einem Freund, Jesus Cortes Aguilar, kurz "Chuy" genannt. Ab der Hauptstrasse rumpeln wir auf einer Kopfsteinpflasterstrasse in die tiefe Schlucht des Rio Santiago hinunter. Auf einem Plateau etwas unterhalb der letzten Ausläufer von Guadalajara wird schon eine neue Ueberbauung in Angriff genommen - krebsgeschwürartig breitet sich die zweitgrösste Stadt Mexicos immer weiter aus. Bald erreichen wir schattige Felswände, wo Echeveria pringlei wächst. Etwas weiter unten kommen wir an senkrechten Felswänden vorbei, wo sich spinnenartig Agave vilmoriniana in den Felsen festkrallt. Und dazwischen die Agave, die wir uns mit dem Fernglas etwas näher ansehen. Da wir Agave impressa vom Typ-Standort her aus Sinaloa kennen, können wir sofort sagen, dass es sich sicherlich nicht um Agave impressa, jedoch um eine Pflanze aus derselben Gruppe handeln muss. Noch weiter unten kommen wir an heissen Quellen vorbei, wo sich ganze Familien vergnügen. Die Männer waschen ihre Autos, die Frauen machen die Wäsche und Kinder planschen in den kleinen natürlichen Becken am Strassenrand. Der Müll türmt sich, doch das scheint hier keinem die gute Laune zu verderben. Dann plötzlich beginnt es zu stinken. Und bald sehen wir auch, woher der Gestank kommt. Wir fahren über eine Brücke und unter uns schäumt und rauscht das ganze weissgraue Abwasser von Guadalajara in den Rio Santiago. Ungeklärt, versteht sich ! In der Felswand ist weit oben eine riesige Röhre auszumachen, aus der das Abwasser in die Tiefe stürzt. Etwas weiter vorne fahren wir nochmals über die Brücke eines Abwasserkanals. Der Rio Santiago fliesst weiss und schaumig und stinkend weiter, vorbei an einigen kleinen Farmen und grasenden Kühen und Pferden. Weiter unten soll sich eine Kläranlage befinden, die jedoch viel zu klein für die zugeführte Abwassermenge ist.



Ein nächster Ausflug führt uns in die Sierra de Tapalpa. Dass Miguel nicht mitkommen kann, erfahren wir erst 5 Minuten vor Aufbruch. Wieder holt uns Chuy ab. Diesmal wird er von einem Studenten begleitet, der die Agaven von Jalisco studiert. Wir sind etwas befremdet, als Schweizer, dass Miguel einfach nicht erscheint, doch später ganz froh, weil uns so mehr Platz im engen Auto von Chuy bleibt. Bis zum Salto del Nogal fahren wir auf einer staubigen Piste. Am Canyonrand entdecken wir schon die ersten Agaven: Agave pedunculifera, Agave inaequidens ssp. inaequidens und Agave filifera ssp. schidigera. Weit unter uns stürzt der Wasserfall in die Tiefe und Schilder erinnern an Unglücksraben, die sich unvorsichtigerweise zu nah an den Abgrund gewagt hatten. In den schattigen Felswänden finden wir Sedum ebracteatum, Graptopetalum fruticosum und eine Felswand ist gepflastert mit hellblau bereiften grossen Rosetten von Echeveria colorata. Riesige Tillandsia pamelae schmücken sich mit rot-gelben Blütenständen. Nach einem steilen Abstieg erreichen wir einen hübschen Fluss und kommen bald zum Wasserfall, wo man schön unter schattigen Bäumen sitzen kann. Nahe am Wasser gedeiht Sedum longipes und mit dem Fernglas können wir eine weitere Sukkulente ausmachen. Waghalsig springen wir von Fels zu Fels über den reissenden Fluss und klettern in der Gischt des Wasserfalls bis zu den grossen Rosetten. Es ist nur Graptopetalum fruticosum, das im ständigen Sprühregen des Wasserfalles ungewöhnlich gross geworden ist. Der Aufstieg in der Nachmittagshitze ist etwas anstrengender, doch danach gönnen wir uns im hübschen Oertchen Tapalpa mit seinen Holzhäusern, Arkaden und Balkonen ein kaltes Bier und etwas für den Gaumen.



Schliesslich schafft Miguel es doch noch, mit uns auf einen Ausflug zu kommen. Wir verabreden uns an einer bestimmten Lagune, von wo wir gemeinsam zu dem Ferienhäuschen eines befreundeten Arztes fahren wollen. Pünktlich erscheint Miguel mit Chuy. Auf dem Weg zum Haus erfährt sich Chuy einen platten Reifen. Sein Werkzeug taugt nichts, jedenfalls nicht für seine Schraubengrösse. Glücklichweise haben wir eine fahrende Werkstatt dabei und so kann der Reifen schnell gewechselt werden. Leider sind wir danach ohne Ersatzreifen in Chuys Camioneta unterwegs ! Auf mexikanischen Schotterpisten keine so intelligente Idee. Bis der Unimog geparkt und alles umgeräumt ist, vergeht einiges an Zeit. Spät kommen wir los und fahren nach Agua de la Virgen. 64 Kilometer ohne Ersatzreifen. Zuerst auf einer schlechten Schotterpiste, die uns im nicht ganz abgedichteten Auto völlig einstaubt. In den Bäumen leuchten die roten Blüten von Disocactus speciosus. Bald begeben wir uns auf eine noch kleinere, noch schlechtere Piste, die uns schliesslich nach Agua de la Virgen führt. Auf der einen Seite des Canyons wandern wir der Schlucht entlang bis Miguel entscheidet, dass wir nun hinuntersteigen müssen. Leichter gesagt als getan, v.a. für Leute, die nicht ganz schwindelfrei sind ! Wir hangeln uns an Bäumen und Sträuchern über die Felswände hinunter und erreichen schliesslich den Bach. Dort fallen auch gleich winzig kleine Insekten, sogenannte "Barillitos" (Miniwespen, die einem ein Stückchen Fleisch aus der Haut schneiden), über uns her. Den Versuch, Sedum multiflorum aufzunehmen brechen wir vorzeitig ab, um möglichst bald den plagenden Biestern zu entkommen. Weiter flussabwärts zeigt uns Miguel einige Exemplare einer Echeveria, die er als Echeveria viridissima bezeichnet. Ob diese eigentlich nur in Oaxaca vorkommende Spezies tatsächlich auch hier wächst, bleibt herauszufinden. Wir haben nicht sehr viel Zeit, plagen uns doch immer noch die Insekten und ist es auch schon spät am Nachmittag. Zurück geht es etwas einfacher auf der anderen Canyonseite und beim Auto setzen wir uns ins Gras und essen das von Miguel mitgebrachten Picknick: Pan Bimbo (weiche Toastbrotscheiben) und in der Hitze halb geschmolzenen Käse. Wir steuern Trockenfrüchte und Früchtetee bei. In der Dämmerung fahren wir zurück. Ab und zu stoppen wir noch für eine blühende Orchidee, doch bald ist es dafür zu dunkel. Wir sind um 11 Uhr nachts endlich wieder beim Auto und sinken erschöpft ins Bett.



Am nächsten Tag sind die beiden schon wieder zu allen möglichen Schandtaten bereit und wollen sich ohne Ersatzreifen nochmals auf die schlechte Schotterpiste wagen. Diesmal sind wir schlauer und fahren mit dem Unimog hinterher, so dass wir uns bequem hinstellen können, wenn uns nach einem Uebernachtungsplatz zumute ist. Unser Ziel ist der Cerro Borracho (der betrunkene Berg), den Miguel schon lange mal besteigen wollte. Wieder sucht er sich die steilste Stelle aus und wir klettern mit Müh und Not bis auf die Hochebene hinauf. Vertrocknetes Sedum jaliscanum, Agave inaequidens ssp. inaequidens, Pitcairnia heterophylla mit roten Blütenständen, eine Agave sp. (Manfreda oder Polianthes), Opuntia jaliscana und epiphytische Orchideen ist alles, was wir finden können. Wieder unten an einem kleinen Wasserlauf angekommen, verabschieden wir uns von den beiden und ziehen wieder alleine - und nur unserer Zeiteinteilung unterworfen - weiter.



Der aktuellste Ausflug, den wir mit Miguel unternehmen, führt uns nochmals in die Barranca de Colimilla, allerdings auf die andere Seite des Rio Santiago. Wir verabreden uns an einer Tankstelle, wo er mit einer Studentin, die die Agaven von Jalisco bearbeitet und einem professionellen Kletterkünstler erscheint. Zu spät, doch daran ist der Pickup schuld, der nicht anspringen wollte. Deshalb kommen sie auch in einem uralten Ami-Schiff, dessen zu breite Reifen v.a. auf einer Seite bei jeder Unebenheit der Strasse (und es gibt keine wirklich ebenen Strassen in Mexico) an die Karosserie anstossen und ein hässliches Kratzgeräusch verursachen. Der ursprüngliche Plan hat sich auch komplett geändert, seit wir uns mit Miguel verabredet haben, doch daran haben wir uns ja bereits gewöhnt. Auf Kopfsteinpflaster und später auch Staubpiste fahren wir auf die andere Seite des Rio Santiago, durch kleine Dörfer, bis wir am Pistenende bei einem kleinen Rancho parken. Miguel kann sich erstaunlich gut erinnern, wo wir entlanggehen müssen, um bis an den Canyonrand zu gelangen. Wir schlagen uns eine Zeitlang durch kratzendes Gebüsch und stehen bald am Canyonrand, der von hier senkrecht rund 300m in die Tiefe fällt. Nach längerer Suche und Herumkletterei entdecken wir auch wofür wir gekommen sind: den violett leuchtenden Blütenstand einer Agave (wobei es sich tatsächlich nicht um Agave impressa handelt). Die Pflanze steht rund 20 Meter weiter und 20 Meter tiefer auf einer kleineren Felsnase, die ohne Kletterausrüstung nicht erreichbar ist. Nun tritt der Klettermeister in Aktion ! Alberto hat seine ganze Ausrüstung inklusive 50m Seil bis hierher geschleppt und macht sich nun daran, sich über die Felswand bis zum Blütenstand abzuseilen. Das Gestein ist eher lose, doch er schafft es problemlos, bis zum Blütenstand vorzudringen. Mit einem kleinen Messer säbelt er so lange am Stamm herum, bis er den oberen Teil des Blütenstandes in der Hand hat. Am Seil ziehen wir unsere Beute nach oben. Schliesslich müssen wir auch noch Alberto nach oben ziehen, weil er seinem Seil und dem Gelände nicht so ganz über den Weg traut. Völlig durchgeschwitzt klettert er doch noch über die Felsklippe und muss sich erst einmal ausruhen, während wir die dunkelvioletten Blüten fotografieren. Gabi schneidet derweil die Blüte und Rippe eines Pilosocereus alensis auseinander und ordnet weitere Herbarbelege in einer improvisierten Pflanzdenpresse an. Die Temperaturen sind schon arg angestiegen, doch im Halbschatten des immer noch fast blattlosen Waldes kann man es immer noch aushalten. Langsam steigen wir wieder zum Auto hoch, Alberto schwer beladen mit seiner Kletterausrüstung. Im nahegelegenen Dorf kaufen wir erst die letzten eisgekühlten Getränke auf, dann geht es uns schon etwas besser. Der eigentliche Plan, auch noch den Cerro Colli (auf der entgegengesetzten Seite der Stadt Guadalajara) zu besteigen, lassen wir in Anbetracht der späten Tageszeit und der herrschenden Sommerhitze fallen. Die Pflanzen werden uns nicht davonrennen !



März/April 2003



Julia Etter & Martin Kristen