travelog 76






Sierra de Guerrero



Ein Coca-Cola Lastwagen staubt auf der Piste an uns vorbei. Der Fahrer grüsst freundlich und vom Dach herunter winken uns zwei schwerbewaffnete Männer fröhlich zu. Die Einheimischen erzählen uns später, dass in diesen Bergen ab und zu die LKW's von Coca-Cola überfallen und ausgeraubt würden, die Firma hätte ja sowieso genug Geld. Aber so normalen Touristen wie uns würde hier sicherlich nichts passieren, auch wenn wir kein bewaffnetes Geleit bei uns hätten. Wir befinden uns in den Bergen von Guerrero, einem nicht nur in Mexico u.a. wegen Drogenanbaus und Drogenschmuggels berüchtigten Bundesstaates.



Dieses Erlebnis haben wir auf der Strecke von Filo de Caballos nach Carrizal, tief in den Bergen westlich von Chilpancingo. Mehrere Male werden wir auf dieser Strecke auch von lokaler Polizei und einem Militärlastwagen, beladen mit bewaffneten jungen Soldaten, überholt, dessen Kommandant schliesslich seine Neugier befriedigen muss und zuerst etwas unwirsch, dann aber immer freundlicher werdend, fragt, was wir denn hier in dieser abgelegenen Gegend zu suchen hätten. Wir erzählen ihm die übliche Geschichte, dass wir die Berge mögen, die Gegend kennenlernen wollen und aus Spass eben Pflanzen fotografieren. Damit gibt er sich zufrieden und weist seinen Fahrer an, die Kolonne wieder in Bewegung zu versetzen. Man konnte ihm aber ansehen, dass er hier oben noch nicht viele so weisshäutige Touristen gesehen hat.



Unsere Fahrt in die Berge beginnen wir am Highway 95 nördlich von Zumpango del Rio. Bis Xochipala ist die Strasse gut asphaltiert, danach fangen die Schlaglöcher an. Langsam schraubt sich die Strasse in die Höhe und wir kommen schnell von wüstenhafter Vegetation mit Säulenkakteen in Eichenwälder mit wunderschönen Exemplaren von Agave cupreata, die im Winter blüht. Bald erreichen wir die ersten Pinien und die Strasse führt von einer Bergkuppe zur nächsten. In Filo de Caballos hört der Asphalt endgültig auf. Es gibt eine Landepiste für kleine Flugzeuge und eine etwas eigenwillig angelegte PEMEX Tankstelle in einer Sackgasse, die nur zu erreichen ist, wenn man das Dorfzentrum durchquert. Obwohl ca. 50km von der nächsten gut ausgebauten Strasse und noch weiter von einer grossen Stadt entfernt, ist Filo de Caballos ein lebendiges Dorf, wo man alles erstehen kann, was man eben so braucht, wenn man hier wohnt.



Vergebens halten wir in den Gärten Ausschau nach Furcraea martinezii, deretwegen wir hierhergefahren sind. Kurz vor Carrizal entdecken wir plötzlich einige kleine Exemplare in schattigen Abhängen. Einheimische erzählen uns, dass bei einer Kreuzung einige Kilometer weiter viele grosse Pflanzen stehen würden, die aber abgeblüht seien. In Carrizal können wir dann das erste baumartige Exemplar im Garten einer Frau fotografieren. Aus einem Lautsprecher dröhnt plötzlich eine Frauenstimme über das ganze Dorf hinweg. Jemand aus der Familie von Señor Fulano, Herrn Soundso, solle sich sofort melden, sie hätten einen Telefonanruf. Wahrscheinlich rufen die Verwandten aus den USA an und da es im Dorf genau einen Telefonanschluss gibt, weiss eben die ganze Bevölkerung der näheren Umgebung, wer wann am Telefon verlangt wurde. Bevor wir die oben erwähnte Kreuzung erreichen, lenken uns die orangeroten Blüten einer Echeveria ab. Echeveria multicaulis ist eigentlich nur aus der Umgebung von Omiltemi bekannt, doch ein Blick auf die Karte genügt, um festzustellen, dass wir uns luftlinienmässig gerade einmal vielleicht 16 Kilometer von jenem Ort entfernt aufhalten. Der ganze sonnige Abhang ist voll bewachsen mit dieser Echeveria. Leider sind die meisten Pflanzen völlig verstaubt, weil unterhalb gerade die Piste durchführt. Der knalligen orangeroten Blüten wegen waren die Pflanzen jedoch für uns nicht zu übersehen.

Etwas weiter, nun in einem sehr feuchten und schattigen Abschnitt der Piste, treffen wir auf weitere Kolonien der gleichen Echeveria. Langsam tuckern wir weiter. Schliesslich erreichen wir die oben erwähnte Kreuzung und sehen tatsächlich gleich neben der Kreuzung ein abgeblühtes Exemplar von Furcraea martinezii. Wir fahren noch etwas weiter bergan, doch können wir keine weiteren Pflanzen im dichten und steilen Wald entdecken. Beim Umdrehen allerdings fallen uns die grossen violetten Blumen einer aussergewöhnlichen Orchidee ins Auge, die zuoberst auf einem riesigen abgestorbenen Baum wächst. Der Pflanzenkörper besteht aus seltsamen grünen Knollen, die durch lange Triebe miteinander verbunden sind. Wieder zurück an der Kreuzung steigen wir etwas den Berg hinauf und hier, im Schatten grosser Bäume, wachsen viele Exemplare dieser nur von hier bekannten Furcraea, allesamt mit Stamm. Die Pflanzen sind imposant anzusehen, hat deren Blattkrone doch einen Durchmesser von etwa 3 Metern. Zwischen den Piniennadeln im Waldboden schiessen wie Spinat Jungpflanzen aus dem Boden, die sich aus heruntergefallenen Bulbillen entwickelten.



In einer kleinen Ortschaft können wir den vielen handgekritzelten Schildern nicht widerstehen, die den lokal hergestellten Mezcal, einen hochprozentigen Schnaps aus Agaven, anpreisen. Eine Frau sieht unsere suchenden Blicke und fragt sofort geschäftstüchtig, wieviele Liter wir denn kaufen wollten. Als sie aber hört, dass es nur ein Liter zum Probieren sein sollte, verweist sie uns schnell an eine in der Nähe wohnende Kollegin. Aus einem Plastikkanister wird uns ein Liter Mezcal, der in dieser Gegend aus der hier heimischen Agave cupreata destilliert wird, in eine alte Coca Cola Flasche abgefüllt. Selbstverständlich bekommen wir aus einer kleinen Kürbisschale auch einen grossen Schluck zur Probe. Auf dem Tisch liegt ein grosser Plastikbeutel mit Chapulines, kleinen Heuschrecken. In einer kurzen Zeitperiode nach der Regenzeit fahren die Leute ins Tiefland in die Nähe von Xochipala und sammeln die Chapulines von den Bäumen. Sie werden geröstet und mit Chile, Salz und Limonensaft gegessen, oder als Füllung in Tacos serviert. Als wir den beiden Frauen versichern, wir hätten auch schon Chapulines in Oaxaca probiert, lachen sie ungläubig. Doch als wir ihnen deren Geschmack nach trockenem Gras beschreiben, glauben sie es uns wohl oder übel. Denn auch sie meinen, die Chapulines würden wie ein Mundvoll zacate seco schmecken, trockenes Gras.



In Chilpancingo, der Hauptstadt von Guerrero, legen wir einen kurzen Halt ein. Mexikanische Märkte haben uns schon immer fasziniert und besonders vor Weihnachten ist es immer interessant, sich an den Ständen nach Pflanzen umzusehen, die für die Dekoration der Weihnachtskrippe angeboten werden. Zum Standardangebot gehören Tillandsia usneoides, Teppiche von Moos und Tannenzapfen. An kleinen improvisierten Ständen in einer Nebenstrasse des Marktes entdecken wir aber noch viel mehr Interessantes. Büschel von unterschiedlichen Orchideen, allesamt von Bäumen der Umgebung heruntergerissen, gibt es fast an jedem Stand. Blühende grossblättrige Tillandsien sind ebenfalls sehr beliebt. Berge von Agave cupreata in allen Grössen sind neben kleinen Kakteen aufgestapelt. Eine Frau hält ihre kleinen weissdornigen Mammillarien - die meisten ohne Wurzeln - in einem Plastikbecken zum Verkauf feil. Selbstverständlich ist der Verkauf dieser Pflanzen illegal, denn sie wurden kaum mit einer Bewilligung der zuständigen Behörde gesammelt, doch in Chilpancingo scheint das noch niemanden gross zu stören. In anderen Städten wie Oaxaca und Tehuacan zum Beispiel, wo wir früher vor dem Markt immer ein grosses Angebot an Pflanzen sahen, werden nur noch Tillandsien und Moos verkauft. Bis hierher jedoch scheinen die mexikanischen Gesetze noch nicht vorgedrungen zu sein.



Wir verlassen das rege Treiben des Marktes. Der Verkehr hier ist ein Horror für Autofahrer. Die Stadt fühlt sich sehr mittelamerikanisch oder afrikanisch an. Oder jedenfalls stellen wir uns vor, dass es weiter südlich so chaotisch zu- und hergeht wie hier. Keiner hält sich an Verkehrsregeln, Lichtsignale werden schlicht und einfach ignoriert, ebenso scheinen die Spuren auf der Strasse unnötigerweise angebracht worden zu sein. Hauptsache man kommt irgendwie vorwärts. Sogar die Polizei schert sich einen Dreck um andere Verkehrsteilnehmer, und so tun wir es ihnen gleich. Es darf gehupt und gedrängelt werden, und Kreuzungen werden mit Vorliebe völlig blockiert. Schliesslich schaffen wir es irgendwie, aus der Stadt herauszukommen und sind auf dem Weg nach Osten, Richtung Tlapa de Comonfort. Eine Zeitlang fahren wir durch schöne Eichenwälder und stoppen immer wieder für verschiedene Pflanzen, wie zum Beispiel Sedum hemsleyanum und Villadia recurvata, die beide in Blüte stehen. Hinter Chilapa schlängelt sich die Strasse in unzähligen Kurven in die Berge hinauf. Zurück bietet sich uns in aller Herrgottsfrühe bald aus luftiger Höhe ein toller Blick über das nebelverhangene Tal von Chilapa. Der Nebel ist so dicht, dass nur einige Hügel und eine Kirche herausragen. Kaum hier oben angekommen, schlängelt sich die Strasse auch schon wieder auf der anderen Seite des Bergmassivs in ein tiefes Tal hinab. Weit unten stoppen wir, um die seltene Agave petrophila in einer Felswand zu fotografieren. Auf Kuhpfaden klettern wir durch das nasse Gras in die Höhe und finden weit oben einen Blütenstand, dessen gelbe Blüten wir fotografieren können. Bald passieren wir den Rio Petatlan und die Strasse schraubt sich wieder in die Höhe. In Atlixtac, einem unscheinbaren Nest inmitten stark erodierter, kahler Hügel, steht eine grosse Coca-Cola Fabrik. Bei einer Brücke über einen hübschen Fluss ziehen riesige Orchideenpolster unsere Aufmerksamkeit auf sich. Das im Sonnenlicht glitzernde Wasser rauscht tief unter uns ins Tal hinunter und der kleine Fluss ist malerisch eingerahmt von grünen Bäumen und Büschen. Auf den schattigen Felsen entdecken wir eine blühende Echeveria, die einer Echeveria fulgens gleicht. Gleich daneben wächst Thompsonella mixtecana, auch diese in Blüte. Die Pflanzen haben hier noch schön fette Rosetten mit grünen Blättern. Später finden wir die gleiche Pflanze in trockeneren Gebieten, wo sie nur noch aus Stengeln besteht und ohne die alten Blütenstände unmöglich mehr als Thompsonella identifiziert werden könnte.



Einige Kilometer westlich von Tlapa de Comonfort machen wir einen Abstecher nach Olinala. Das kleine Städtchen, seit wenigen Jahren mit dem Rest von Mexiko durch eine Asphaltstrasse verbunden, liegt in einer Gegend, die wegen der schönen Pinien- und Eichenwälder La Montaña genannt wird. Olinala allerdings liegt auf einer Höhe von ca. 1300m und wir haben die kühlen Pinien- und Eichenwaelder längst hinter uns gelassen. Olinala ist berühmt für sein Lack-Kunsthandwerk, und die kleinen Strassen sind denn auch gesäumt mit Geschäften, in denen die bunten Truhen, Kürbisse, Tischchen und Schmuckkästchen bewundert und gekauft werden können. Bei einem Spaziergang durch das Städtchen besuchen wir einige Hinterhöfe und Garagen, in denen ganze Familien sich dem traditionellen Kunsthandwerk widmen. Schweigend sitzen Ehepaare auf dem Boden und arbeiten an einer grossen Truhe, während der Nachwuchs den improvisierten Verkaufsstand bewacht. Ursprünglich wurde das Holz von Bursera penicillata, das auch unter dem Namen Linaloe bekannt ist, für die Herstellung der Truhen und Kästchen verwendet, denn es verlieh dem Endprodukt einen wundervollen Duft. Doch über die Jahre hinweg wurden fast alle dieser Bäume in der Umgebung abgeholzt und so wird heutzutage oft Pinienholz verwendet, das mit Linaloe Essenz parfümiert wird. Die kleinen Kürbisse stammen von einem Baum, der Crescentia alata, an dessen Stamm sich die kürbisähnlichen Früchte entwickeln. Sie werden v.a. für die Herstellung von Gürteltieren und Truthähnen verwendet. Mehrere Schichten von Lack werden auf das Holz oder die Kürbisse aufgebracht, die dann in noch nassem Zustand mit der Spitze eines Agaven- oder Palmblattes aus dem eigenen Garten eingeritzt werden. Die Künstler erfinden immer neue eigenwillige Muster, fantastische Figuren und märchenhafte Tiere, die sie auf die Truhen, Kästchen, Tische und Kürbisse zaubern. Mittlerweile gibt es das Kunsthandwerk aus Olinala überall in Mexiko zu kaufen, doch die schönsten, originellsten und preiswertesten Stücke findet man immer noch direkt vor Ort.



Zurück auf der Hauptstrasse kommen wir kurz vor Tlapa de Comonfort wieder in tiefere Regionen. Vorbei an spektakulären Felswänden und einem schon ausgetrockneten Wasserfall erreichen wir das breite Tal des Rio Tlapaneco bei Tlapa. Am Eingang von Tlapa befindet sich der öffentliche Markt, wo wir uns etwas umsehen. Ein kleines Restaurant ist voll besetzt mit bis an die Zähne bewaffneten Polizisten und vielen sehr dunkelhäutigen Marktbesuchern. Das Essen hier muss sichtlich gut sein. Eine Frau bereitet übergrosse Tortillas zu, die immer heiss zum Essen gereicht werden. Bald werden zwei Plätze frei und wir setzen uns, argwöhnisch von vielen Augenpaaren beobachtet. Ungeniert starren uns die Leute am langen Tisch an und wundern sich wahrscheinlich noch mehr, als die weisshäutigen Besucher aus einer anderen Welt auch noch spanisch reden ! Die Entscheidung für Mole poblano, eine fast schwarze, dickflüssige und sehr scharfe Sauce, die mit Schokolade abgeschmeckt und mit Hühnerfleisch serviert wird, fällt uns leicht, gehört dieses Gericht aus Puebla doch zu einem unserer Lieblingsessen. Tlapa ist ein anderer chaotischer Ort, was den Verkehr betrifft, und wir müssen aufpassen, nicht plötzlich auf der falschen Spur in einer Einbahnstrasse zu landen oder den Ausgang aus der hektischen kleinen Stadt zu verpassen. Gleich hinter Tlapa verengt sich das Tal des Rio Tlapaneco und ein kleiner Fluss, der Rio Salado, mündet in ihn ein. Hier können wir an den gegenüberliegenden Felswänden von blossem Auge Agave petrophila in den senkrechten Felsen hängen sehen, doch der Zugang scheint sich etwas schwieriger zu gestalten. So erkunden wir eben das kleine Tal des Rio Salado zusammen mit einer Herde gefrässiger Ziegen. Die bizarren Kalksteinformationen am Eingang sind mit Orchideen überwuchert. Hechtien mit ihren Widerhaken ähnlichen Randdornen klammern sich an unsere Hosenbeine. Auch hier entdecken wir Agave petrophila und die absolut unkenntlichen rosettenlosen Stengel von Thompsonella mixtecana. Im Schatten tropischer Bäume, nun schon fast alle blattlos, entdecken wir eine erst kürzlich beschriebene Pflanze, nämlich Beaucarnea hiriartiae. Es ist eine zur Familie der Nolinaceae gehörende Pflanze, die mit dem dickem knolligem Fuss, schlanken, schlangenartig in die Höhe wachsenden Aesten und den daran terminal sitzenden Blattbüscheln eine sehr attraktive Pflanze ist. An den verheilten Schnittwunden erkennen wir, dass hier immer wieder Triebe abgeschnitten und mitgenommen werden. Wir fahren weiter durch das relativ enge Tal des Rio Tlapaneco und kommen schliesslich auf einer Brücke über den nun schon breiteren Fluss. Abzweigende Strassen und Pisten laden zu Erkundungsfahrten ein, doch wir machen uns auf den Weg nordwärts Richtung Acatlan.



Nur einen ganz kleinen Teil dieses bergigen Hinterlandes von Guerrero konnten wir auf dieser Reise botanisch unter die Lupe nehmen. Obwohl allerorts Leute davon reden, wie gefährlich Reisen in dieser Gegend von Mexico seien, haben wir nur nette, zugängliche Menschen angetroffen, haben hervorragend gegessen, ruhig geschlafen und uns nicht einmal bedroht gefühlt. Sind die Warnungen nur übertrieben ? Wer weiss. Eines wissen wir jedoch gewiss: wir werden uns bald wieder hierher wagen !



Februar 2007



Julia Etter & Martin Kristen