travelog 88






Ein Wochenende zwischen Saltillo und Monterrey



"Por fin llegué a Coahuila", begrüsst uns ungefähr 100km südlich der Hauptstadt Saltillo ein grosses Schild über der Hauptstrasse. Endlich in Coahuila angekommen, denken auch wir, denn die Strecke zwischen Zacatecas und Saltillo ist ziemlich langweilig. Ausser natürlich man steht auf endlos lange und gerade Strassen, die am Horizont im Nichts verschwinden. Und auf unheimlich weite Landschaften, wo es über Hunderte von Kilometern nur wenige Hügelzüge gibt, die etwas Abwechslung in das flache Hochland bringen. Concepcion del Oro, die einzige grössere Siedlung an der Strecke, ist eine alte Minenstadt, in der man das Gefühl hat, dass die Zeit irgendwo in den 50-Jahren des letzten Jahrhunderts stehengeblieben ist. Nach Tankstellen sucht man entlang der mehr als 100km langen einsamen Strecke von Concepcion del Oro nach Saltillo auch vergebens. Unsere Tankanzeige-Nadel bewegt sich mehr und mehr in Richtung "leer", doch wir schaffen es gerade noch bis zur ersten Tankstelle an den Ausläufern von Saltillo.



In Saltillo hat sich seit unserem letzten Besuch einiges geändert. Strassen wurden verbreitert, Brücken gebaut, Umfahrungen eingeweiht. Shopping Center wurden aus dem Boden gestampft und die Siedlungen mit den knapp 50m2 grossen, oder wohl treffender kleinen, Häusern, die uns immer an Hühnerställe erinnern, sind wie Krebsgeschwüre bis an die unzugänglichen Berge gewachsen. Woher in dieser Wüstenregion das Wasser für all diese Leute kommt, ist uns ein Rätsel. Wohin alles Abwasser fliesst, ebenfalls. Und ohne Auto dauert die Reise in die Stadt, zur Arbeit und in die Schule aus diesen Satellitensiedlungen sicherlich eine halbe Ewigkeit.



Etwas ausserhalb von Saltillo klettern wir auf einen Hügel, der dicht mit Pflanzen bewachsen ist. Agave lechuguilla wächst in grossen Polstern und zerrt einem zusammen mit einer Hechtia immer wieder an den Hosenbeinen. Dazwischen entdecken wir verschiedene Kakteen, wobei Thelocactus rinconensis mit seinen langen Dornen wohl das beeindruckendste Exemplar ist. Was uns aber am meisten fasziniert, ist eine kompakte und wunderschön schwarz bedornte Form von Agave victoriae-reginae, wahrscheinlich die Form nickelsii. Die Pflanzen sind gut im trockenen Gras versteckt oder wachsen unter Creosote-Büschen und Ocotillo. Etwas weiter oben stolpern wir dann über noch interessantere Pflanzen. Es sind Hybriden zwischen Agave victoriae-reginae und A. lechuguilla, Hybriden zwischen erstgenannter und A. asperrima, und Hybriden zwischen den Hybriden und der Originalform. Je weiter wir hochsteigen, desto mehr Mischungen und Kreuzungen entdecken wir. Oft ist gar nicht mehr auszumachen, welches nun die Mutterpflanzen gewesen sind. Auf dem Rückweg stolpern wir dann in einem trockenen und felsigen Arroyo noch über Echeveria strictiflora, die mit ihrer graublauen Farbe fast perfekt an den grauen Kalkstein angepasst ist. Weit unter uns donnert der Schwerverkehr zwischen Saltillo und Monterrey, doch wenn man sich genügend in die wunderbare Vegetation vertieft, hört man das Rauschen der Autos und Lastwagen fast nicht mehr.



Der nächste Tag empfängt uns mit tiefhängenden Wolken und Nieselregen über Monterrey. Trotz schlechter Ausschilderung finden wir in Santa Catarina bis zum Eingang des Huasteca Canyons. Früh am Morgen sind wir die einzigen Touristen. Erstaunlicherweise ist der Eintritt gratis. Ein Wärter beantwortet Fragen und beruhigt uns etwas, als er sagt, dass das Wetter hier draussen oft schlecht sei, um nach den ersten paar Kurven zu wechseln. Wir trauen dem Mann nicht so recht, doch tatsächlich hellt sich der Himmel auf nachdem wir um ein paar Kurven herumkommen, der Regen hört auf und sogar die Sonne will sich durch die Wolkendecke drücken. Als erstes fallen uns natürlich die wunderschönen Exemplare von Agave victoriae-reginae auf, deretwegen jeder Agavenfan hierher fährt. Es ist die Orginialform, die einen Durchmesser von bis zu 50cm erreichen kann. In den senkrechten Felswänden kleben die runden Kugeln von ganz oben bis in die trockenen Flussbetten hinunter. Hinter einem Ziegenstall klettern wir auf einen Hügel, um die Pflanzen genauer anzuschauen und zu fotografieren. Der Hirte kann überhaupt nicht verstehen, weshalb wir so den Narren an diesen für ihn hundskommunen Pflanzen gefressen haben. Uebrigens ist das eine seltsame Sache im Huasteca Canyon. Angeschrieben ist er als "Parque Nacional Cumbres de Monterrey". Seit 1939 ist dies ein geschütztes Gebiet und seit 2006 wurde es von der UNESCO zu einer "Reserva de la Biosfera" erklärt. Nichtsdestotrotz gibt es hier Wochenendhäuschen und Cabañas zu mieten, und Feuerholz, Eis und kaltes Bier zu kaufen. Bauern wohnen im Canyon und weiden hier ihre Ziegen und Rinder. Sogar eine Edelüberbauung, Valle de Reyes, soll hier entstehen, doch davon später mehr.



Immer wieder stoppen wir, um die gigantischen Felswände zu bestaunen. Wir sind weit und breit die einzigen Touristen. Auch Kletterfans, die am Wochenende normalerweise in Horden in den Canyon strömen, trauen sich heute nicht aus ihren Löchern heraus, denn die Felsen sind nass und zu rutschig. Der bedeckte Himmel ist für uns ideal, können wir so doch fotografieren, ohne gross zu beschatten. An schattigeren Stellen sind die bröckligen Wände mit trockenen Selaginellas überwachsen. Ab und zu sehen wir einen Echinocereus oder eine Mammillaria, doch nach Crassulaceen halten wir vergebens Ausschau. In schattigeren Felspartien gedeiht Agave bracteosa und sogar eine Hesperaloe funifera entdecken wir im Gebüsch. Jeder einzelne Canyon sieht vielversprechend aus, doch wir sind auf einer Mission unterwegs und wollen so wenig Zeit wie möglich unterwegs vertrödeln, was uns natürlich wie üblich schwer fällt. Wolken kriechen über die hohen Bergkuppen und Felszinnen, und ab und zu schickt die Sonne ihre Strahlen durch ein Loch in der Wolkendecke. Die Asphaltstrasse geht bald in eine rumplige und staubige Piste über. Immer wieder zweigen kleine Pisten von der Hauptstrecke ab. Um dieses riesige Gebiet zu erforschen, reicht wohl ein ganzes Leben nicht aus.



Unsere heutige Mission heisst Agave albopilosa. Agavenfans haben bestimmt schon von dieser Pflanze gehört, alle anderen denken sich nun, dass es wieder "nur" eine unserer stachligen Pflanzen ist. Es ist tatsächlich nur eine weitere Agave, doch bis anhin wussten nur die Entdecker und Beschreiber, wo sie wächst. Den Standort hielten, und halten, sie geheim, um die Pflanze vor Plünderei zu schützen. Die neu entdeckte Agave war für Umweltschützer und Gegner ein Grund mehr, etwas gegen das oben erwähnte Ueberbauungsprojekt Valle de Reyes, bei dem in einem Naturschutzgebiet 5000 Häuser und ein Golfplatz entstehen sollen, zu unternehmen. Allerdings wurde dadurch leider auch bekannt, dass diese seltene Agavenart irgendwo im Huasteca Canyon vorkommt. Zufälligerweise fand ein guter Freund die Pflanze. Nachdem wir zu allen Agaven-Göttern Stillschweigen geschworen hatten, erklärte er uns, wie wir hinfinden könnten. Unsere Mission ist also nicht allzu schwierig.



Wir finden die Pflanzen ganz einfach, aber auch nur, weil wir genau wissen, wo sie wachsen. Fast den ganzen Tag klettern wir im Gebüsch den Felsen entlang, um wenigstens einige etwas weiter unten in den Klippen wachsende Exemplare fotografieren zu können. Am besten ist es allerdings, das Stativ und ein gutes Teleobjektiv mitzubringen, denn die meisten Exemplare hängen unzugänglich in den Felsen über unseren Köpfen. Das spezielle an dieser Agave ist, dass sie unterhalb des Enddornes ein Büschel weisser Haare besitzt, was tatsächlich sehr interessant und witzig aussieht. Ausserdem ist es eine eher kleinbleibende Art, was sie für die Kultur in einem Gewächshaus oder im Topf auf einer Terrasse ideal macht. Nur leider wurde es bisher versäumt, Pflanzen nachzuziehen und so ist zu befürchten, dass alle einigermassen erreichbaren Exemplare verschwinden werden, sobald weitere Leute den Standort gefunden haben.



Nach einem spannenden Tag im Huasteca Canyon, der wie immer viel zu schnell verging, fahren wir wieder Richtung Santa Catarina. Kaum erreichen wir die letzten paar Kurven, hängen die grauen Wolken wieder tief und Nieselregen empfängt uns. Im Feierabendverkehr kämpfen wir uns durch Monterrey und erreichen schliesslich Villa Santiago, ein Pueblo magico. Im Dorfzentrum gibt es genau ein Hotel, in dem ein Zimmer mindestens 1200 Pesos ($84 oder CHF 97) kostet. Alle Restaurants rund um den schön erleuchteten Hauptplatz gehören der gehobenen Klasse an. In einer Seitengasse finden wir ein kleines Haus, in dessen vorderstem Zimmer Tacos angeboten werden. Der Besitzer hat nichts dagegen, dass wir gegen die Nässe und Kälte unsere Flasche Tequila reinholen und uns schon mal einen Schluck genehmigen. Am nächsten Morgen erfahren wir dann, dass die Einheimischen das Dorf nicht Pueblo magico, sondern Pueblo tragico nennen, was die Verhältnisse aus ihrer - und unserer - Sicht sicherlich eher akkurat beschreibt. Einen Markt, etwas, das Mexico eben so einzigartig macht, gibt es hier nicht mehr, es wird also nichts aus einem heissen Kaffee und einem frisch gepressten Orangensaft am Morgen. Villa Santiago ist zu einem Konservendorf geworden, in dem wohlhabendere Einwohner von Monterrey das Wochenende verbringen. Weiter südlich entlang der Strasse finden wir dann aber das Mexico wieder, das wir kennen und fühlen uns schon wieder zuhause.



Nun fahren wir in die Berge hinauf Richtung La Cienega und Laguna de Sanchez. Die Wolken hängen immer noch tief, die Strasse ist nass und von den Bäumen tropft das Wasser. Steil kurvt die Strasse in die Berge hinauf, und wir haben dank des Nebels und der Wolken keine Ahnung, wie es um uns herum aussieht. Plötzlich durchbrechen wir die dicke Wolkendecke und die Sonne strahlt aus einem azurblauen Himmel. Unter uns liegt ein Wolkenmeer aus dem wie Inseln aus dem Meer die höchsten Berge ragen. Durch dichten Wald fahren wir weiter und kommen durch einen hübschen schattigen Canyon. Bei viel Regen tritt der kleine Fluss wohl über die Ufer und überschwemmt die Strasse, die an einigen Stellen nur einspurig zu befahren ist. Echeveria simulans, Sedum palmeri und S. calcicola gedeihen im humusreichen Boden.



La Cienega ist eine kleine Ortschaft, die ganz auf den Tages- und Wochenendtourismus aus Monterrey und Saltillo ausgerichtet ist. Die Strasse ist gesäumt von kleinen Restaurants, in denen schon kräftig gekocht wird. Schilder preisen günstige Cabañas an, und es gibt wie üblich Feuerholz, Eis und kaltes Bier zu kaufen. Wir fahren an den Eingang einer tollen Schlucht, wo schon andere Leute campieren. Wenn man genug weit läuft, kommt man zu einem Wasserfall. Und mit dem geeigneten Fahrzeug, sprich ATV (All Terrain Vehicle), geländegängigem Fahrrad oder Motorrad, kann man der ganzen Schlucht entlangfahren, bis man in den Huasteca Canyon hineinkommt und nach Santa Catarina herausfährt. Da wir heute noch so einiges vorhaben, landen all diese Sachen auf der langen Liste mit Projekten für die Zukunft. Die Strasse führt nun durch eine schöne Ebene, die beidseitig von senkrechten Kalksteinfelsen und hohen Bergen gesäumt ist. Es wird wie wild gebaut und man fragt sich unweigerlich, wer in all diesen Cabañas übernachten soll. Plötzlich stehen wir vor einer engen Schlucht. Beidseits der Strasse ragen die Felsen bis in den Himmel. Neben der schmalen Strasse fliesst ein hübscher Fluss, der diesen Strassenabschnitt bei starkem Regenfall unbefahrbar macht. Die Wände sind dicht mit Agave bracteosa bewachsen. Danach erreichen wir bald Laguna de Sanchez, wo wir einen lokalen Mezcal erstehen, der aus Agave salmiana und A. gentryi hergestellt wird.



Auf einer nächsten Passhöhe stoppen wir, um Fotos von Agave gentryi zu machen. Zwischen den grossen grünen Pflanzen wächst auch eine wunderschön gelb gebänderte A. lophantha. Danach eröffnet sich uns ein spektakulärer Blick auf einen dreieckigen Felsberg, der sich über der kleinen Siedlung La Peña erhebt, die ihren Namen natürlich von besagtem Berg erhalten hat. Die alten Eichenbäume sind ganz mit Tillandsia usneoides behangen, die leicht im Wind schaukeln. Echeveria simulans wächst auch hier in schattigen Felsen und zwischen Eichenlaub. Durch viele kleine Dörfer fahren wir nun zurück Richtung Saltillo. Problemlos finden wir den Ort, an dem wir vor 7 Jahren Echeveria cuspidata gefunden hatten. Vom Parkplatz an der Autobahn klettern wir in den trockenen Arroyo hinunter. Als wir den Felsen vor uns sehen, in dem wir die Pflanzen damals fotografiert hatten, bleibt kein Zweifel, dass wir am richtigen Ort sind. Doch von den wenigen Pflanzen, die wir damals gesehen hatten, ist keine Spur zu sehen. Auch in der weiteren Umgebung finden wir keine Echeverien.



Nun geht es wieder südwärts. "Ni modo, ya salí de Coahuila", verabschiedet uns das Schild über der Hauptstrasse Richtung Zacatecas. Es wird wohl nicht lange dauern, bis wir dieses Schild wieder von der anderen Seite her sehen werden, denn die Gegend zwischen Saltillo und Monterrey hat viel mehr zu bieten als man in einem Wochenende sehen kann.



November - Dezember 2008