travelog 98






Die Suche nach Echeveria tobarensis



Viele bekannte Botaniker und Hobby-Botaniker haben ihr Glück schon auf der Suche nach Echeveria tobarensis versucht. Myron Kimnach zum Beispiel besuchte Tovar zweimal erfolglos. Jeronimo Reyes suchte ebenso erfolglos nach der geheimnisvollen Spezies. Seit 1960 gab es zahlreiche Versuche, diese mysteriöse Art wiederzufinden, die 1908 von Palmer in einem Box Canyon nahe Tobar (dem heutigen Tovar) in Durango gefunden wurde. Natürlich hatte auch uns die Neugier und ein gewisser Ehrgeiz gepackt und wir versuchten 2001 und 2003 vergebens, Echeveria tobarensis zu finden.



Edward Palmer (1829–1911), Brite und autodidaktischer Botaniker, sammelte in seiner Lebenszeit über 100'000 Pflanzen-Exemplare und entdeckte auf seinen diversen Reisen fast 1000 neue Spezies. Ungefähr 200 Arten und ein Genus (Palmerella) sind nach ihm benannt, u.a. Sedum palmeri, Echeveria palmeri (heute Synonym von Echeveria subrigida), Dudleya palmeri und Agave palmeri, um nur ein paar wenige zu nennen. Er betätigte sich aber nicht nur botanisch, sondern auch zoologisch und archäologisch. In Mexiko bereiste Palmer v.a. die Staaten Durango, San Luis Potosi, Coahuila und Tamaulipas. Leider fehlten bei vielen seiner Aufsammlungen die entsprechenden Daten zu Ort und Zeit der Aufsammlung. In einem Brief schilderte Palmer den Fund einer neuen Echeveria mit den folgenden Worten: "Echeveria: Four plants from holes in sides of box canon near Tobar. There was no soil, the plants had slight roots to hold to rocks, one had a flower stem with flowers of a dark red, this broke from the plant, and in the effort to secure it I slipped, fell, and received several contusions and a sprained wrist, left hand, and had to be carried by man-power out of the canon, then put on a horse to ride to Tobar." ("Echeveria: Vier Pflanzen aus Löchern in den Seiten eines Box Canyons nahe Tobar. Es gab keine Erde, die Pflanzen hatten wenig Wurzeln, um sich am Stein festzuhalten, eine hatte einen Blütenstand mit dunkelroten Blüten, dieser brach von der Pflanze ab und beim Versuch, ihn zu sichern rutschte ich aus, fiel, und zog mir verschiedene Quetschungen zu und ein verstauchtes Gelenk, linke Hand, und ich musste aus dem Canyon herausgetragen werden, wurde dann auf ein Pferd gesetzt, um nach Tobar zurückzureiten."). Diese Echeveria wurde 1911 von Rose unter dem Namen 'Urbinia lurida' beschrieben. Berger benannte sie 1930 in 'Echeveria tobarensis' um, deren Basionym Urbinia lurida ist. Von der mysteriösen Spezies gibt es nur einen Herbarbeleg im US National Herbarium, auf dem der Blütenstand und zwei beschädigte Blätter zu sehen sind.



Der von Palmer als Tobar angegebene Ort heisst heute Tovar. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass viele Mexikaner ein 'b' als 'v' schreiben und umgekehrt. Irgendwann wurde so aus Tobar ganz einfach Tovar. Und Echeveria tobarensis, nach den Minen bei Tobar benannt, würde heute wahrscheinlich Echeveria tovarensis benannt werden.



Im April 2001 versuchten wir unser Glück ein erstes Mal. In Tepehuanes wusste jeder, wie man nach Tovar kommt, wie die verlassene und jetzt stillgelegte Mine heisst. Eine Familie bewohnte ein Steinhaus unweit einer halb verfallenen Minenarbeiter-Siedlung, sonst war hier absolut nichts los. Wir erkundeten die Umgebung, v.a. die Felswände entlang des Flusses, der unterhalb von Tovar durch das Tal fliesst. Das schönste, was es hier gab, waren riesige Kolonien von grossen, hellgrünen und kugelförmigen Agave parryi ssp parryi. Einen ganzen Tag lang wanderten wir flussaufwärts und tief in den Canyon hinein, vorbei an verlassenen kleinen Gehöften mit Adobe-Ziegelhäusern. Die Vegetation sah vielversprechend aus, die Eichenbäume hingen voll mit rosarot blühenden Tillandsien, doch in den Felswänden, die wir untersuchten, konnten wir absolut keine Spur einer Echeveria finden. Weit hinten im Canyon verstauchte ich mir den Knöchel, als ich von einem Stein auf den nächsten hüpfen wollte. Unser Ausflug nahm ein abruptes Ende. Leider waren wir nicht wie Palmer mit einer Gruppe von Leuten und Pferden unterwegs, und so schnallte sich Martin für den Rückweg zwei Rucksäcke um und lieh mir seinen Wanderstock. Langsam humpelte ich nun an den zwei Wanderstöcken zurück zum Unimog, wo ich mit einem total angeschwollenen und blauen Knöchel ankam. An grosse Wanderungen war in den nächsten paar Wochen nicht zu denken ! Am nächsten Tag traf Martin auf die Familie und erkundigte sich nach der von uns gesuchten Pflanze. Natürlich kannten sie diese, in der Nähe gäbe es Hunderte davon, meinten sie. Und führten Martin prompt zu einer Blume, einem rot blühenden Penstemon, die absolut nichts mit einer Echeveria zu tun hatte.



Den zweiten Versuch starteten wir zwei Jahre später, im Januar 2003. Die Mine war immer noch verlassen. Die gleiche Familie wohnte immer noch im alten Steinhaus und konnte sich gut an uns, oder besser an den Unimog, erinnern. Im Januar war es bitterkalt und die Schlucht lag lange im Schatten. Wir umgingen die Unfallstelle von 2001 weiträumig. Weiter hinten im Canyon stiessen wir auf Sedum glabrum. Auch die Tillandsien blühten wieder. Bald erreichten wir einen kleinen See mit senkrechten Felsen auf beiden Seiten. Kurzentschlossen zogen wir die Hosen aus und wateten durch das eiskalte Wasser. Auf der anderen Seite kamen wir noch eine kurze Strecke weiter, bis wir vor einem grösseren und tiefen Becken standen, durch das es kein Durchkommen mehr gab. Höchstens vielleicht im Hochsommer bei extrem tiefem Wasserstand oder in einem Gummiboot, aber bestimmt nicht im Januar im eiskalten Wasser. In den Felswänden gedieh immer noch Sedum glabrum und Villadia aperta, doch von einer Echeveria keine Spur. Ziemlich enttäuscht drehten wir um und wanderten langsam zurück.



Den dritten Versuch unternahmen wir im Dezember 2010. Diesmal erreichten wir die Piste zur Mine Tovar von hinten. Die Piste war neu geschoben und sah sehr befahren aus. Als wir um die nächste Kurve herumkamen, sahen wir auch weshalb. Bei der Mine wurde wieder gearbeitet ! Wir entschieden uns diesmal für eine andere Piste und erreichten das Rancho Los Sauces. Der Rinderzüchter gab uns gerne die Erlaubnis, auf der schmalen, nur noch ganz selten benutzten Piste weiterzufahren. Wir kamen bis zu einer kleinen verlassenen Siedlung aus Adobehäusern, einem perfekten Uebernachtungsplatz. Am nächsten Tag brachen wir früh auf und folgten der uralten Piste auf eine Passhöhe hinauf. Bald schon entdeckten wir Echeveria paniculata, eine weit verbreitete Art. Immerhin eine Echeveria, aber leider die falsche, doch es kam Hoffnung auf. Von der Passhöhe aus hatten wir einen guten Ueberblick und nahmen unser Ziel ins Visier. Ueber gelbe Wiesen und durch lichte Wälder wanderten wir bis an einen kleinen Bach, wo wir auf Sedum glabrum stiessen. Der Bach mündete in einen grösseren Fluss, dem wir Richtung Felswände und Schlucht folgten. Wir einigten uns darauf, hinter einigen Flusskurven mehr zu entscheiden, ob sich der Weitermarsch lohnte oder nicht. Doch so weit kam es gar nicht. Ein grösserer mit Moos bewachsener Stein zog unsere Aufmerksamkeit auf sich und siehe da, ganz zuoberst wuchs doch tatsächlich eine Echeveria ! Und diese Pflanze hatte überhaupt nichts mit einer E. paniculata zu tun, es musste ganz einfach Echeveria tobarensis sein ! Bei genauerem Hinsehen entdeckten wir viele kleine Pflanzen im Moos und geschützt zwischen einem stachligen Echinocereus. Wir waren uns nicht ganz sicher, ob es sich tatsächlich wieder um den gleichen Canyon handelte, den wir schon bei den letzten beiden Versuchen abgewandert waren, doch als wir beschlossen, doch noch weiterzugehen und an einen kleinen See zwischen senkrechten Felswänden kamen, dämmerte es uns, dass wir tatsächlich wieder am gleichen Ort gelandet waren. Wieder wateten wir durch das eiskalte Wasser und erreichten den Endpunkt der Wanderung von 2003, wo wir auch diesmal umdrehen mussten. Obwohl wir jetzt wussten, wie die gesuchte Pflanze aussah, konnten wir in den senkrechten Felsen oberhalb des unüberwindbaren Wasserbeckens keine einzige Pflanze entdecken. Wohl auch deshalb, weil die Pflanzen sich von ihrer Farbe her bestens an die umgebenden Felsen angepasst hatten und daher nur sehr schwer auszumachen waren. Nur in der Nähe unseres moosigen Steines fanden wir auf der anderen Flussseite noch eine einzige kleine Pflanze. Wahrscheinlich ist es am besten, zur Blütezeit der Pflanzen zurückzukommen und mehrere Tage lang in den kleinen Schluchten herumzuklettern.



Zurück beim Auto wurde der Erfolg mit Tequila gefeiert. Wir waren zu faul, Holz für ein kleines Lagerfeuer zu sammeln, sassen aber noch eine ganze Weile lang unter dem klaren Sternenhimmel, bis uns die Winterskälte in die Schlafsäcke und unter vier Wolldecken vertrieb. Am nächsten Morgen waren die Scheiben zugefroren und es dauerte eine Ewigkeit, bis die ersten Sonnenstrahlen über die Berge kletterten und uns etwas erwärmten. Der Bauer vom Rancho Los Sauces erkundigte sich später, ob wir Rehe, Füchse oder sonstige Wildtiere gesehen hätten. Und schickte uns bei der Forstbehörde vorbei, die unsere Bewilligungen sehen wollten. Dort angekommen stellte sich heraus, dass eher unser Bauer etwas misstrauisch geworden war und in uns verkappte Jäger vermutete und deshalb bei der Forstbehörde vorbeiging. Die Beamten jedenfalls waren hellstens begeistert von unserem Besuch, wollten keine Papiere sehen, und offerierten uns jedmögliche Unterstützung, die wir benötigen könnten. Bald stellte sich aber heraus, dass sie sich in der Umgebung fast weniger auskannten als wir, denn alle Gebiete, die wir ihnen beschrieben, gehörten für sie zu verbotenen Zonen, wo sie sich nicht mehr hinwagten, da zu gefährlich. Da hatten wir gedacht, dass in Topia das Klima ideal für den Marihuanaanbau sei und es hier oben im Winter auf 2000 m zu kalt für solche Pflanzungen wäre, doch anscheinend hatten wir uns getäuscht.



Da wir schon in den "gefährlichen" Bergen Durangos waren und uns bisher nichts zugestossen war, entschieden wir uns, unser Glück noch etwas mehr auf die Probe zu stellen und fuhren weiter nach Norden in die bergige Grenzregion der Barrancas del Cobre, wo sich die mexikanischen Bundesstaaten Durango, Chihuahua, Sonora und Sinaloa treffen. Von dort werden wir als nächstes berichten.



Dezember 2010



Julia Etter & Martin Kristen